Das Geheimnis der Rosenlinie - Esch, W: Geheimnis der Rosenlinie
musterten sich wieder ausgiebig gegenseitig.
»Was seid Ihr für ein Mann, Maurus van Leuven? Seid Ihr ein Heiliger?«
»Gewiss nicht«, lachte Maurus kurz auf und lehnte sich zurück. Dabei verzog er schmerzverzerrt das Gesicht.
»Habt Ihr Schmerzen?«
»Ja, mir tun alle Knochen im Leibe weh! Es war gewiss kein Vergnügen, die toten Brüder in der Abtei Villers beizusetzen. Eine ungewohnte Arbeit für einen Mann wie mich.«
Jetzt lachte Enja.
»Da habt Ihr Recht. Wie ein Handwerker oder ein Totengräber seht Ihr gewiss nicht aus. Ihr seid ja kaum größer als ich.« Enja hielt sich ob dieser dreisten Aussage die Hand vor den Mund. »Verzeiht, Pater.«
»Ich bin kein Pater«, entgegnete Maurus.
Jetzt lachten beide.
Erneut räkelte sich Maurus und versuchte, seinen verspannten Rücken zu lockern.
»Ich könnte Euch den Rücken kneten. Ich habe es von meiner Tante gelernt, die es wiederum von meiner Großmutter erlernt hatte.«
»Was seid Ihr, eine Heilerin? Und dann verdient Ihr Euer Geld durch Liebesdienste?«
Verlegen blickte Enja herunter.
»Nein, ganz so ist es nicht, Maurus van Leuven. Es ist eher anders.«
Jetzt blickten ihn zwei traurige grüne Augen an.
»Erzählt es mir.«
»Ihr seid gewiss nicht hier, um traurige Geschichten zu hören.«
»Das müsst Ihr schon mir überlassen, ob ich diese Geschichten hören will oder nicht. Ich habe nichts Besseres vor. Also erzählt mir Eure Geschichte.«
»Mein vollständiger Name ist eigentlich Enja DeVeer.«
»Verzeiht, wenn ich Euch unterbreche. Dann kommt Ihr wohl aus den Niederlanden, genau genommen aus der Hafenstadt Veere.«
Enja nickte.
»Ja. Meine Eltern waren Tuchhändler, besaßen gar ein eigenes Schiff und trieben Gewinn bringenden Tuchhandel mit Schottland. Meine Großmutter hatte das, was man das zweite Gesicht nannte, und sie kannte sich sehr gut in der Kräuterkunde aus. Sie brachte mir bei, wie man Salben und Tinkturen zubereitet, um Schmerzen zu lindern und Wunden zu heilen. Meine Mutter hat nichts von alledem. Aber ihre Schwester, meine Tante, hieß Gertruida. Sie half vielen Menschen in und um Veere herum mit ihrer Heilkunst, war eine angesehene Frau. Eines Tages verliebte sie sich in einen reichen Landwirt, der Witwer war. Seine Hausmagd war ein eifersüchtiges Biest und zeigte meine Tante wegen Liebeszauber an. Meine Tante wurde verhaftet und gefoltert. Die Folter war so schlimm, dass sie ein Geständnis ablegte, um ihre Qualen zu beenden. Doch auf dem Scheiterhaufen widerrief sie ihr Geständnis und verfluchte Veere mit all seinen hartherzigen Einwohnern. Den Tag, an dem man sie verbrannte, werde ich nie vergessen. Meine Mutter zwang mich, der Hinrichtung beizuwohnen, damit ich sehen würde, wie man mit Hexen zu Recht verfuhr. Etwa zwei Jahre später tauchte ein Geschäftspartner meines Vaters auf, ein gewisser Jan Terhuizen. Er brachte kostbare Stoffe aus China und Indien mit. Mein Vater erhoffte sich davon großen Gewinn und daher gab er zu Ehren seines Geschäftsfreundes ein kleines Fest. Es wurde viel getrunken, gelacht und getanzt. Auch ich musste anwesend sein und konnte mich kaum vor den Annäherungsversuchen dieses Mannes retten. Später dann, mitten in der Nacht, als alles schlief, drang er in meine Kammer ein und nahm mich mit Gewalt. Als ich es am nächsten Tag meiner Mutter erzählte, schrie sie mich an und beschimpfte mich, ich sei eine Hexe. Wie ich diesen ehrbaren Mann auf so infame Art und Weise beschuldigen könne. Mein Vater schien mir zunächst zu glauben und stellte Terhuizen zur Rede, der jedoch alles bestritt und seinerseits damit drohte, mich anzuzeigen. Nur mit Mühe und dem Versprechen auf einen größeren Geldbetrag konnte mein Vater Schlimmeres verhindern. Doch den Zorn meiner Mutter konnte er nicht beschwichtigen. Sie drohte mir, mich in ein Kloster zu stecken und so riss ich von Zuhause aus. Bald schon merkte ich, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Ich besuchte eine Kräuterfrau bei Zoutelande, die meinen Verdacht bestätigte, dass ich schwanger sei. Sie wollte mich zu einer Engelmacherin schicken, doch das lehnte ich ab. Stattdessen schloss ich mich in Vlissingen einem Handelstreck an. Der Führer dieses Trecks war ein schmieriger Franzose und verlangte natürlich eine Bezahlung von mir. Da ich kein Geld besaß, nun, Ihr könnt Euch bestimmt vorstellen, was er von mir verlangte. Es war das reinste Martyrium. Das könnt Ihr Euch sicherlich nicht vorstellen. Als dann der Grund meiner Flucht von
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