Das Geheimnis der Salzschwestern
Gedankens nicht erwehren, dass vielleicht der Teufel Menschengestalt angenommen hatte und gekommen war, ihre Seele zu holen. Natürlich hatte man sie vorgewarnt, was Jos Aussehen anging – ihr erzählt, dass deren ganze rechte Seite völlig vom Feuer verzehrt worden war –, aber es hatte niemand erwähnt, dass ihr Gemüt unter diesen Wunden noch immer heiß schwelte. Sie gehörte zu der Sorte Personen, der Dee gerne vertraut hätte, sie befürchtete jedoch, Jo könne womöglich eines Tages in Flammen aufgehen und Dee mit sich in die Glut reißen.
Es war Dees erste Woche in Prospect, dem kleinen Ort am Kap, und ihr Vater hatte dort eine Imbissstube gekauft, obwohl er kein gelernter Gastronom war. Auch an das Leben am Meer waren sie nicht gewöhnt, und Dee kämpfte noch immer jedes Mal gegen Schwindelgefühle an, wenn sie auf das Wasser hinausblickte, das bis zum Horizont schwappte und wirbelte. Sie hatte den Ozean noch nie zuvor gesehen und wünschte, er würde einfach für einen Moment stillhalten. Wünsche brachten jedoch selten etwas, diese Erkenntnis hatte sich bei Dee bis tief in die Knochen hineingegraben.
Von ihnen beiden hatte nur ihr Vater, Cutt Pitman, Zeit auf See verbracht. Dees Heimat war Vermont; ihr Vater hatte hingegen im Koreakrieg und einige Zeit danach als Koch bei der Marine gearbeitet, bevor er heimgekehrt und unerwartet spät im Leben noch Vater geworden war. Wenn er davon erzählte, dann hörte es sich so an, als wäre Cutt Sindbad, der Seefahrer, oder so etwas in der Art gewesen, dabei hatte er das Meer tatsächlich kaum zu Gesicht bekommen. Den Großteil der Zeit hatte er im stinkenden Bauch eines Kriegsschiffes zugebracht und war zusammen mit Eipulverdosen, Säcken mit fast grünen Kartoffeln und nicht zu identifizierenden Fleischbüchsen hin und her geschleudert worden. Als die Marine ihn schließlich entlassen hatte, und Cutt wieder in den Bergen von Vermont wohnte, war es so, als wäre er nie fortgewesen, sagte er, und das passte ihm einfach nicht, aber was hätte er denn tun sollen, wo er doch eine Frau und ein kleines Baby hatte, um die er sich kümmern musste? Also nahm er einen Job in der Cafeteria des örtlichen Krankenhauses an, gewöhnte sich wieder an das Leben als Landratte, und dabei blieb es.
Aber dann bekam Dees Mutter Krebs und starb, als Dee siebzehn war. Nach diesem Verlust schien die Rastlosigkeit von Dees Vater wieder geweckt. Er betrank sich regelmäßig und schwafelte nach ganz schlimmen Exzessen irgendetwas von Freiheit und der See vor sich hin, hatte dabei das Gesicht in den geschundenen Händen vergraben und weinte. Dee wusste, dass er nicht direkt vorgehabt hatte, mit ihr nach Prospect zu ziehen. Eines Tages hatte er einfach eine Karte ausgebreitet, mit einem Stift auf irgendeinen Punkt am Kap gezeigt und sie gebeten, den Namen der Stadt vorzulesen.
»Prospect«, verkündete sie. Das klang in ihren Ohren streng und biblisch, nicht gerade wie ein Ort, den sie am liebsten sofort aufsuchen wollte. Cutt lie ß seine Flasche sinken, starrte darauf, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen, und sah sich dann mit demselben Gesichtsausdruck im Wohnzimmer um.
»Prospect also, na gut«, sagte er. »Dann mal auf in Richtung Osten.« Das sollte wohl witzig klingen, aber Dee war bewusst, dass ihre beiden Herzen im Grunde genommen so schwer waren wie ein Batzen Teer. Bei ihnen gab es nicht wirklich viel zu lachen.
Als sie das Kap entlangfuhren, wurde schnell offensichtlich, dass sie hier in einer Ferienregion ganz am Ende der Saison ankamen, wodurch Dee sich nur noch einsamer fühlte. Je mehr sie sich Prospect näherten, desto voller wurde die Gegenfahrbahn, auf der sich Kombis und kleine Sportwagen drängten, Autos voller Familien und Pärchen, die aufs Festland und ins wahre Leben zurückkehrten. Dee starrte aus dem Wagenfenster und wünschte, sie könnte mit ihnen fahren, stattdessen hockte sie hier mit ihrem Vater in ihrem riesigen Auto, das die reinste Sauna war, und durchquerte eine Landschaft mit rauen Büschen, hässlichen Wiesen und – natürlich – dem Ozean. Sie wusste auf Anhieb, dass er nichts für sie war. Sein unheimliches Wirbeln erinnerte sie an zuckende Schlangen. Sie konnte nicht so recht sagen, ob das Meer mit aufgerissenem Maul auf sie losging oder nach misslungenem Biss bereits wieder davonglitt.
Es war so schwül, dass sie ans Autofenster gelehnt einschlief, und als sie wieder wach wurde, hing ihr ein Speichelfaden vom Mundwinkel bis zum Kinn
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