Das Geheimnis der Salzschwestern
herunter. Sie setzte sich auf und stellte fest, dass der Wagen stand und sie allein war, also wischte sie sich übers Gesicht und schaute sich aufmerksam um. So wie sie das sah, waren sie nicht nur am Ende der Straße angelangt, sondern auch am Ende ihres bisherigen Lebens. Sie hatten vor dem Imbiss geparkt, den ihr Vater gekauft hatte, in einer Straße, die so austerngrau war, dass Dee automatisch blinzeln musste. Hier gab es keine grünen Hügel, an denen sich ihre trockenen Augen laben konnten, keine Farmen mit dummen, aber glücklichen Kühen, keine Tümpel im Granit. Nur ein Dorf entlang einer einzigen Straße am Rande einer Bucht, ein paar Gebäude mit leerem Blick und zerbrochenen Schindeln und so viel verdammtes Wasser ringsumher, dass sie noch nicht einmal den großen Zeh hineinstecken musste, um das Gefühl zu haben, bereits am Ertrinken zu sein.
Ihr Vater tauchte in der Tür der Imbissstube auf. »Kommst du?«, rief er ihr zu, als er bemerkte, dass sie wach war. »Bring die Koffer mit. Die Arbeit wartet.« Sie schaute sich nach irgendwelchen Lebenszeichen um, aber vergeblich, also schien es ihr vernünftig, dieses eine Mal auf ihren Vater zu hören und seiner Bitte nachzukommen.
Es stellte sich heraus, dass sie über der Gaststätte wohnen würden. In diesen Teil des Plans hatte Cutt sie nicht eingeweiht, und als Dee im hinteren Bereich des Gebäudes die wackelige Treppe hinaufstieg, wunderte sie sich, warum sie nie daran gedacht hatte, ihn danach zu fragen. Die Trauer hatte sie den großen Fragen des Lebens gegenüber abstumpfen lassen, machte es ihr sogar unmöglich, auch nur die allerkleinsten Entscheidungen selbst zu treffen. Dee konnte sich beim Frühstück für nichts entscheiden, wusste nie, was sie mit ihren Haaren anstellen oder zu ihrem Vater sagen sollte. Die Folge war, dass sie alles in sich hineinstopfte und dabei zunahm, ihre Haare ungekämmt he runterhingen und sie tagelang kein einziges Wort hervorbrachte.
Am Ende der Treppe fand sie mehrere Zimmer vor, die so schäbig waren, dass sie sich fragte, wofür man sie wohl vorher genutzt hatte. Vielleicht als Lager. Die Räume waren so stickig und staubig wie der Dachboden bei alten Leuten, aber Dee glaubte, ihr Zimmer trotzdem hübsch einrichten zu können. Es hatte ein Mansardenfenster mit Blick auf die Hauptstraße des Ortes und eine Dachschräge, die es gemütlich wirken ließ. Sie öffnete das Fenster, schob das durchhängende eiserne Bettgestell darunter und begann, ihre Kleider in die schäbige Kommode in der Ecke zu räumen. Einen Schrank gab es nicht, aber das war schon in Ordnung, Dee hatte ja kaum Klamotten.
Nachdem sie alles verstaut hatte, machte sie einen Spaziergang und stellte fest, dass es in Prospect nur das Allernötigste gab: ein Postamt, eine Bücherei, eine Bank und einen Laden. Am anderen Ende der Bank Street befand sich ein parkartiger, großer runder Platz mit fleckigem Gras, der »Tappert’s Green« genannt wurde. Dort picknickten noch einige Familien, und gierige Möwen suchten zwischen ihnen nach Essensresten, aber trotz der zur Schau getragenen Fröhlichkeit strahlte dieser Ort etwas Unheimliches aus. Dee konnte es nicht in Worte fassen, sie bemerkte aber, dass ein paar herumstreunende Hunde die Straßenseite wechselten, als sie auf Höhe des Parks kamen. Mitten auf der Wiese entdeckte Dee einen verkohlten Kreis und erschauderte. Sie stellte sich vor, dass hier Hexen verbrannt wurden, wenn man in Prospect welche zu fassen bekam, und schließlich sollte sie herausfinden, dass es in der Stadt tatsächlich noch zwei von der Sorte gab, denen man nicht über den Weg trauen konnte, wenn es um Feuer ging.
An ihrem dritten Tag in der Stadt stellte Cutt einen Mann namens Timothy Weatherly ein, der im Lokal ein paar Reparaturen übernehmen sollte. Dee freute sich auf einen knackigen Handwerker, den sie beäugen könnte, doch als Mr Weatherly dann endlich erschien, stand ein dürrer alter Mann mit Baseballkappe und einem zu weiten Overall vor ihr. Er war ungefähr so appetitlich wie Cutts Frikadellen vom Vortag, was ihren Vater aber nicht zu stören schien.
»Ich möchte das hier gern thematisch ausrichten«, erklärte er Mr Weatherly. »Sie wissen schon, dem Ganzen einen Seefahrer-Touch geben. Bilder von Booten an den Wänden. Messinglaternen. Netze, Bojen und Steuerräder. Das volle Programm. Meinen Sie, das kriegen Sie hin?«
Mr Weatherly kniff die Lippen zusammen, und Dee konnte sich schon vorstellen, was er dachte
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