Das Geheimnis der Salzschwestern
Gegenwart in Erinnerung gerufen. Dee mochte immer noch gern Kirschbonbons – die mit Kaugummi in der Mitte. Sie machte Popmusik im Radio an und tanzte dazu, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, und wenn Claire und Jo nicht protestierten, dann stand sie so lange unter der heißen Dusche, dass es in den nächsten zwei Stunden kein warmes Wasser mehr gab. Wenn Claire jedoch beobachtete, wie Dee mit Jordy spielte, ihn auf dem Wohnzimmerfußboden kitzelte, sich mit all ihrem Babyspeck auf den Rücken legte und mit den Beinen in der Luft zappelte, um ihn zum Lachen zu bringen, dann hätte Claire bei dem Anblick in Tränen ausbrechen können.
Jeder hatte wohl Momente, die wie ein Prisma funktionierten, in denen sich das Sichtbare brach und man erkannte, was man wirklich vor sich hatte. Claire kniff die Augen zusammen und kehrte wieder zum Turner-Haus zurück. Am liebsten hätte sie es allein mit Blicken eingerissen. Claire dachte daran, dass Joanna ihre Hochzeitseinladung voller Salz zurückgeschickt hatte, um sie daran zu erinnern, wer sie war und woher sie stammte. Claire hatte den Umschlag im Flur geöffnet und dabei die dicken grauen Körner über den Fußboden verteilt. Beim Auffegen hatte sie Rache geschworen. Aber was, wenn sie die ganze Zeit falschgelegen hatte? Wenn Jo ihr damit überhaupt keinen Fluch geschickt hatte, sondern ihren Segen?
Am Abend des Dezemberfeuers war das Wetter unglaublich fies, und Claire wunderte sich, dass die Feier nicht abgeblasen wurde, aber Traditionen waren in Prospect eben unverwüstlich. Schließlich packte sie Dee zusammen mit einer Schachtel Gewürzkuchen, einer Thermoskanne heißem Cidre und einer mit Glühwein, einem Klapptisch und einer Geldkassette in den Truck und schärfte ihr ein, ihren Posten nicht zu verlassen, bis nicht die letzten Flammen erloschen waren.
»Ich werd mir da draußen den Hintern abfrieren«, murrte Dee und schlang sich die Arme um den Körper.
»Genau wie alle anderen, Dee«, entgegnete Claire und öffnete ihr die Tür des Trucks. »Darum geht es doch. Die Leute werden sich um heiße Getränke reißen. Damit verdienen wir uns eine goldene Nase, und du darfst die Hälfte behalten.« Bei diesen Worten begannen Dees Augen zu leuchten, und Claire unterdrückte ein Grinsen. Ein paar Dinge hatte sie an Whits Seite eben doch gelernt, zum Beispiel, dass man die Leute zu vielem bewegen konnte, wenn man sie mit barer Münze lockte.
Als sie wieder hineinging, wiegte Jo im Wohnzimmer Jordy beim Feuer. Sie sah zu Claire auf. »Hast du Idas Brief?«
Claire blickte mürrisch drein. Sie hatte noch jede Menge Zeit, bevor sie sich mit Whit treffen würde, und sie war den Plan heute schon zweimal mit Jo durchgegangen. »Der liegt bei mir oben in der Schublade. Aber ich halte es für keine gute Idee, ihn mitzunehmen.«
Jo runzelte die Stirn und überlegte. »Wahrscheinlich hast du recht. Den können wir schließlich nicht ersetzen. Aber was, wenn er dir nicht glaubt?«
»Oh, das wird er.« Claire würde Whit allein gegenübertreten. Das hielten Jo und sie für besser, und außerdem musste bei diesem furchtbaren Wetter auch jemand im Haus bleiben und auf Jordy aufpassen. Dee hatte so gern zum Dezemberfeuer gehen wollen. Insgeheim war Claire mehr als glücklich darüber, dass nun ihr allein die große Aufgabe zufiel. Nachdem Whit sie monatelang gequält und schließlich seinen Zorn an Icicle ausgelassen hatte, wollte sie gern diejenige sein, die ihn auf den Haken spießte und ihn daran zappeln ließ.
Sie musste nur noch eins erledigen, und zwar noch vor dem Feuer. Also küsste sie Jordy auf den Scheitel und wickelte sich ihr Tuch enger um den Hals. Jo sah auf, und ihr Glasauge leuchtete im Schein der Flammen. Das war ein gespenstisches Bild, und Claire wandte den Blick ab. Eigentlich war doch sie selbst diejenige voller Feuer.
»Wollten Dee und du nicht gemeinsam los?«, fragte Jo. »Ich hab den Wagen gerade wegfahren hören.«
Claire fuhr fröstelnd zusammen und knöpfte sich den Mantel zu. »Ich gehe zu Fuß, aber ich bin schon rechtzeitig in der Stadt, um das Salz ins Feuer zu werfen«, versprach sie. »Keine Angst. Ich muss nur vorher noch ein paar Dinge klären.«
Wenn der Nordwind in St. Agnes besonders heftig wehte, versetzte er das ganze Gebäude in Bewegung. Vibrationen begannen in den Dachbalken und setzten sich dann bis ins Fundament der Kirche fort. Mit zitternden Händen versuchte Claire, eine Kerze für Unsere Liebe Frau anzuzünden, die Flamme zuckte
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