Das Geheimnis der Salzschwestern
aber dennoch ein paar, und zwischen ihnen hätten eigentlich Schälchen mit Jos Salz stehen und ihre Zauberkräfte wirken lassen sollen, bleiche Kreise, ausdruckslos und geheimnisvoll wie viele kleine Monde.
Nachdem Dee fort war, machte Jo sich Vorwürfe, weil sie sich Dee gegenüber so gemein verhalten hatte. Dabei wusste sie ja selbst besser als sonst einer, wie es war, schikaniert zu werden. Nach dem Tod ihres Bruders hatte ihre Mutter die Mädchen ein ganzes Jahr lang schwarz gekleidet, so dass sie alle Blicke auf sich zogen, ihre Trauer überall ins Auge stach. Jo war damals erst neun gewesen und damit zu jung, um die Stille der Erwachsenen zu verstehen, die sich ausbreitete, wenn sie mit ihrer Mutter und Schwester in der Stadt die Bank oder Apotheke betrat. Gleichzeitig war sie aber viel zu traurig, um noch ein Kind zu sein. Ihre Kleidung war meist schmutzig und voller Salzringe, weil sie vor der Schule in der Marsch arbeitete, und ihr Mittagessen roch nach gekochtem Kohl. Die anderen Kinder fingen an, einen großen Bogen um sie zu machen, und wandten sich bei den Mahlzeiten von ihr ab, wenn sie sich den verschworenen kleinen Grüppchen näherte. Jemand erfand ein Spottlied über sie, das dann im Umkleideraum gesungen wurde.
Sie war auch vorher nicht besonders beliebt gewesen, es hatte ihr aber nicht viel ausgemacht, weil sie ja mit Henry zusammen essen oder zu den Schaukeln gehen konnte. Er hatte ihr auch die Wörter erklärt, mit denen sie Schwierigkeiten hatte. Als sie noch zu zweit gewesen waren, hatten die Kinder aus der Stadt sie in Ruhe gelassen, aber jetzt war Jo ganz allein, und all ihre Eigenheiten fielen plötzlich besonders auf, sogar ihr selbst.
Auf der Suche nach Trost wandte sie sich an Unsere Liebe Frau. Jeden Sonntag trottete sie hinter ihrer Mutter her zur Kirche, Claires kleine Hand in der ihren, und starrte während der ganzen Messe die Jungfrau an. Ihr fehlendes Gesicht war ein ungelöstes Rätsel, das auch sie nicht ergründen konnte. Jos Vorstellungskraft blieb an den Rissen im Bildnis hängen und erinnerte sie an ihre eigenen kleinen Sünden.
»Verehrung ist nicht einfach nur Liebe«, erklärte Mama Jo, wenn sie sie ins Bett brachte, und ihre ausdruckslose Stimme hallte in der Dunkelheit nach. »Vergiss das nie. Es steckt auch Schmerz darin, so großer Schmerz, wie du ihn dir kaum vorstellen kannst.«
Jo fing an, genauer darauf zu achten, was die Frauen aus der Stadt zu den Füßen der Muttergottes hinterließen. Das Opfer der Gillys war immer Salz gewesen, Jo fand jedoch heraus, dass die Gaben eine ganz eigene Sprache sprachen. Junge Mädchen, die sich nach Liebe sehnten, brachten frische Blumen, solche, die man betrogen hatte, jedoch getrocknete. Die Frauen, die sich um ihre Kinder sorgten, opferten Zucker und Honig, und solche mit Geldproblemen schoben einen Vierteldollar unter die Opferkerze. Und wenn es an der Zeit für die Beichte war, dann zeichnete jede einzelne der Frauen ausnahmslos mit zwei Fingern die Umrisse des leeren Antlitzes nach, so als würden sie ihre Fehler lieber der Muttergottes anvertrauen als dem Herrn.
Pater Flynn machte das wahnsinnig. »Ich möchte alle noch einmal bitten, keine Lebensmittel oder andere Sachen in die Kirche zu stellen«, verkündete er manchmal vor der Predigt. »Das lockt nur Ratten an. Wer außerhalb der Messe beten möchte, findet unter der letzten Bank Kerzen, für die wir uns über eine Fünf-Cent-Spende freuen.« Aber die Frauen in Prospect ignorierten ihn rundheraus und entschieden lieber weiterhin selbst, wie und zu wem sie beteten.
»Warum?«, forderte Jo nun eine Erklärung ein.
Darauf erwiderte Mama jedoch nie etwas. »Geh jetzt schlafen«, war die einzige Antwort, die sie je bekam.
Wenn Jo in der Kirche lange genug die Gottesmutter und ihre Gaben studiert hatte, wanderte ihr Blick hinüber zu Whit Turner. Der saß auf der anderen Seite des Ganges und wusste sie hinter dem stocksteifen Rücken seiner Mutter immer mit Grimassen zum Lachen zu bringen, obwohl er doch zwei Jahre jünger war als sie.
Woche für Woche kamen nur Whit und seine Mutter Ida zur Messe. Sein Vater Hamish war kein religiöser Mensch und nahm daher nicht am Gottesdienst teil. Ida hingegen war als armes katholisches Mädchen zur Welt gekommen, und obwohl sie jetzt nicht mehr arm war, war der katholische Teil noch immer tief und fest in ihr verankert, genau so, wie es sein sollte.
Bevor sie Ida Turner wurde, war sie Ida May Dunn gewesen, eine Göre mit
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