Das Geheimnis der Salzschwestern
verabscheute.
»Das sind allesamt Schlampen«, schnaufte sie jedes Mal, wenn sie einen weiteren Sack voller Katzen davontrug, auf die der sichere Tod wartete. »Schlimmer als eine Schiffsladung betrunkener Matrosen. Lassen die armen unschuldigen Dinger einfach verhungern. Und dann dieses Herumstolzieren mit hoch in die Luft gerecktem Schwanz.« (Manchmal wusste Jo nicht so recht, ob ihre Mutter jetzt Ida oder die Katzen verfluchte.)
Vielleicht hätte die Feindseligkeit ihrer Mütter bei Whit und Jo ähnliche Gefühle auslösen sollen, aber es stellte sich heraus, dass sie beide ziemliche Dickköpfe waren. Bei ihm war es offensichtlicher, aber auch Jo war stur, und statt sich gegenseitig abzustoßen, zogen sie sich vielmehr an wie Magnet und Metall, der eine war, was der andere brauchte. Und eine Zeit lang – tatsächlich sogar viele Jahre – konnte sie nichts auseinanderbringen, nicht ihre Mütter, nicht die Tatsache, dass er ein reicher Turner und sie eine im Schlamm watende Gilly war, und auch nicht die zwei Jahre Altersunterschied.
Aber es konnte nicht ewig so weitergehen, und das lag nicht an den Gründen, über die sich die Leute in der Stadt das Maul zerrissen – am Feuer, an Jos und Whits unterschiedlicher gesellschaftlicher Stellung oder daran, dass Jos Schwester Claire die Hübschere der beiden Gillys war. Wie bei Kleinstadtskandalen so oft war die wahre Ursache für das Zerwürfnis zwischen Jo und Whit viel einfacher und gewaltiger, als die meisten Leute gedacht hätten – der Tod kam zwischen sie. Und obwohl sie das nur ungern zugegeben hätte, obwohl es eigentlich gar nicht so aussah, hatte Jo tief in ihrem Herzen einen guten Grund, den Sternen dafür zu danken, dass dem so war.
Als sie Whit zum ersten Mal richtig kennenlernte, war Jo sieben und steckte auf Drake’s Beach mit beiden Armen bis zum Ellbogen im feuchten Sand. Wenn sie genug Zeit hatte und das Wetter es zuließ, lief sie nach der Kirche gerne am Strand herum und sah sich nach etwas Essbarem um. Sie tollte durch die Brandung und versuchte, ein paar Fische zum Braten zu fangen, oder sammelte Seetang, meistens aber grub sie Muscheln aus: klein und knorpelig, aber durchaus lecker, nachdem ihre Mutter sie geschmort hatte. Ein Eimer Muscheln entsprach einem Tag, an dem das Essensgeld der Gillys im Glas in der Küche bleiben konnte. Jo hatte den Kopf gesenkt und war konzentriert, daher fuhr sie erschrocken zusammen, als sie plötzlich eine Jungenstimme vernahm: »Wo kommen die überhaupt her?«
Sie hörte zu buddeln auf und wandte sich um. Normalerweise hatte sie den Strand für sich allein, aber da stand nun Whit Turner mit Sonntagshosen und gebügeltem Hemd.
»Was?«, fragte sie verwirrt. Vor diesem Nachmittag hatte sie Whit noch nie allein draußen gesehen. Normalerweise schleppte seine Mutter ihn nach dem Essen in den Country Club.
Hinter Whit erschien der panische Schatten seiner Gouvernante und verharrte dort wie ein flatterndes Insekt, er ignorierte sie jedoch einfach. »Ich meine, die haben doch keine Mutter und keinen Vater, und Eier legen Muscheln auch nicht – oder doch?«
Darüber hatte Jo vorher nie nachgedacht. Für sie war das einfach nur kostenloses Essen. Das war alles. Sie grub die Muscheln aus, ihre Mutter kochte sie, und damit hatte sich die Sache. Andererseits kannte Whit Hunger auch nicht aus erster Hand, so wie sie. Jo wusste, dass sich nur Leute mit vollen Bäuchen fragten, woher ihr Essen stammte. Der Rest der Menschheit senkte das Haupt und dankte dem Herrn für seine Güte. Jo zuckte mit den Achseln und steckte ihre Schaufel in den Sand. »Nicht alles hat eine Mutter.«
Whit runzelte die Stirn und dachte über ihre Worte nach. Das war neu für Jo. Mama sagte ihr meistens, sie solle den Mund halten und sich wieder an die Arbeit machen, und Claire plapperte einfach nur auf sie ein. Whit biss sich auf die Lippe. »Alles und jeder hat doch eine Mutter. Sogar Jesus.«
Jo dachte an den gesichtslosen, behauenen Kopf der Jungfrau in ihrer ewigen Mahnwache und zuckte mit den Achseln. Whit ließ sich neben ihr in den Sand sinken und beugte sich über das Loch, das sie gegraben hatte. »Manchmal wünsche ich mir, ich hätte eine andere Mutter«, murmelte er und malte mit einem Finger ein Muster in den Sand. »Meine ist nämlich nicht besonders nett.«
In diesem Moment erwachte der lauschende Schatten der Gouvernante zum Leben. »Whit Turner«, knurrte sie und zog ihn am Ellbogen hoch. »Eigentlich darfst du gar nicht
Weitere Kostenlose Bücher