Das Geheimnis der Salzschwestern
hier sein, und du solltest erst recht keine Geschichten über deine Familie erzählen. Du bist ein Turner, benimm dich also auch so. Und jetzt los, wir kommen noch zu spät zum Tennis.«
Whit rollte mit den Augen und grinste Jo an. Sein Haar war zerzaust, so wie das von Henry früher oft, und sie hätte am liebsten die Hand ausgestreckt und es geglättet. Es war gar nicht unbedingt so, dass Jo Henrys Gesellschaft vermisste – in seinem kurzen Leben hatte er schließlich die meiste Zeit die Nase in Lexika und Bücher gesteckt, während das Herz in seiner Brust flatterte wie ein Kanarienvogel im Käfig. Sie vermisste eher die Möglichkeit seiner Gesellschaft. Sie sah Whit an und sprach eine Einladung aus, obwohl sie wusste, dass das ihrer Mutter so gar nicht passen würde. »Wenn du morgen wiederkommst«, versprach sie und deutete mit ihrer Schaufel auf den Strand. »Dann findest du mich dahinten. Ich weiß, wo es Sanddollars gibt.«
Whits Gouvernante war bereits dabei, ihn mit sich zu schleifen, aber bevor sie sich allzu weit entfernt hatten, drehte er sich noch einmal um und rief: »Und wenn du rausfindest, woher die Muscheln stammen, dann sag Bescheid!«
Stattdessen musste sie sich am Abend ganz schön etwas anhören, als sie ihrer Mutter von dem Treffen erzählte. »Wenn ich du wäre, würde ich mir einen anderen Freund suchen«, grummelte Mama und knallte die Schüssel mit Kartoffelpüree und Erbsen auf den Tisch.
Jo zog eine Schnute. »Warum denn?«
Mama schnaubte. Das war eine dumme Frage. Selbst Jo war das klar. Sie wappnete sich für eine ordentliche Standpauke. »Denn was auch immer du tust«, begann Mama, »du kriegst den Schlamm nie aus den Klamotten, den Akzent nie aus der Stimme und die Sole nie aus dem Blut.« Sie steckte einen Löffel ins Püree und schob ihren Stuhl vom Tisch weg. »Ida hat Angst vor ihrem Niedergang, auch wenn sie da oben auf Plover Hill hockt wie eine alte Krähe. Denn glaub mir, Ida weiß genau, wie es ganz unten ist.«
Jo seufzte, beugte sich tief über ihren Teller und probierte die Muscheln. Zum ersten Mal fand sie den Geschmack des Salzes unangenehm. »Ich wette, so was essen die Turners nicht«, bemerkte sie und schob den Teller beiseite.
Ihre Mutter sah sie kühl an. »Je weniger Gedanken du dir um die Turners machst, desto besser. Und jetzt sei still und iss die Gaben, die Gott uns geschenkt hat.« Claire begann zu quengeln, und Mama brachte sie zum Schweigen. »Du nicht auch noch«, stöhnte sie, tunkte eine Brotkruste in Milch und reichte sie Claire. »Erzähl mir bitte nicht, dass sich hier noch jemand über die Ordnung der Dinge beschweren will.«
Jo biss sich auf die Zunge und versuchte, das restliche Essen herunterzuschlucken. Hatte sie sich etwa beschwert? Sie sah das anders, aber manchmal konnte man gar nicht so leicht einschätzen, wie Mama die Dinge auffassen würde. Jo blickte aus dem Küchenfenster hinaus über die Marsch. Jenseits des Salzmoores lag direkt hinter den Dünen Drake’s Beach und die Erinnerung an ihren Nachmittag mit Whit.
»Hast du mich gehört?«, fragte Mama. »Nach dem Essen müssen die äußeren Becken ausgekratzt werden. Nimm deine Schwester mit, lass sie aber nicht allein rumlaufen.«
Jo seufzte und sah Claire an, die sie aus großen Kinderaugen anstarrte. Ihr feuerrotes Haar ringelte sich in kleinen Löckchen. »Bestimmt nicht«, versprach Jo, kreuzte aber die Finger unterm Tisch. Für sich selbst konnte sie das nämlich nicht versprechen.
Eine Woche später überraschte Whit sie damit, dass er auf einem Motorrad den Strand entlangraste. Es war absolut lächerlich. Die Maschine war viel zu groß für ihn, und er wackelte darauf hin und her wie ein Stehaufmännchen, aber da war er nun, sauste am Ufer entlang und grinste von einem Ohr zum anderen. Kurz bevor er Jo erreichte, blieb eines der Räder an einem Stein hängen, das Motorrad rutschte seitlich weg, warf Whit ab und schleuderte in hohem Bogen Sand durch die Luft.
»Alles klar?«, rief Jo und rannte zu ihm hinüber, um ihm zu helfen.
Whit stand auf, griente wie eine Hyäne und wischte sich über die Jeans. »Nicht schlecht, was?«
Mit klopfendem Herzen stemmte Jo die Hände in die Hüften. Seit Henrys Tod war sie übervorsichtig und hatte furchtbare Angst vor möglichen Unfällen. »Doch, ist es.« Dann kam ihr ein furchtbarer Gedanke. »Hast du das etwa gestohlen?« Warum Whit allerdings etwas stehlen sollte, war ihr schleierhaft.
Er feixte. »Die Weatherly-Brüder
Weitere Kostenlose Bücher