Das Geheimnis der Salzschwestern
haben es mir geliehen.«
»Was?« Sie kannte die Weatherly-Brüder – Tim und Hank. Alle Mädchen in Prospect kannten die beiden. Ein Zehnt- und ein Zwölftklässler, berühmt für ihre Schmalztolle, die Zigarettenpäckchen, die sie im Umschlag des T-Shirtärmels mit sich herumtrugen, und ihre motorisierten Fahrzeuge. Die Weatherly-Brüder waren die Schrauber und Dreher von Prospect. »Warum sollten die einem kleinen Kind wie dir ein Motorrad geben?«
Whit zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Haben die Leuten denn immer einen Grund für alles, was sie machen?«
»Aber guck mal, du hast es ja zerkratzt.« Es stimmte. Am hinteren Schutzblech zog sich eine zehn Zentimeter lange Schramme über die rote Farbe. Whit hockte sich hin, um einen Blick darauf zu werfen. »Das gibt aber Ärger«, bemerkte Jo. Sie konnte sich den triumphierenden Tonfall nicht verkneifen. »Du weißt doch, wie empfindlich die Weatherly-Brüder sind, wenn es um ihr Spielzeug geht.«
Whit ließ sich auf die Hacken sinken. »Das glaube ich kaum.«
»Was glaubst du nicht?«
»Dass die Probleme machen werden.«
Jo starrte ihn an. »Bist du verrückt? Timmy hat Hank letztes Frühjahr beinahe den Kopf abgerissen, weil er mit seiner Blechkiste einen Unfall hatte.«
Whit strich mit dem Daumen über den Kratzer. Auf einmal nahmen seine Züge einen verblüffend erwachsenen Ausdruck an. »Ja, ich bin aber nur ein kleines Kind. Was können die mir schon anhaben? Und wenn ich grün und blau nach Hause komme, dann müssen sie meiner Mutter erst mal erklären, warum sie mir das Motorrad überhaupt geliehen haben, und du weißt ja, dass Timmy und Hank keine großen Redner sind.«
Seine Argumentation war hieb- und stichfest. Jo war beeindruckt.
»Am besten sag ich einfach, dass die Schramme schon vorher war«, überlegte er. »Das werden die mir zwar nicht abkaufen, aber was bleibt ihnen anderes übrig? Sie werden sich gegenseitig beschuldigen, und dabei bleibt es dann. Jetzt komm, hilf mir mal, das Ding aufzurichten.«
In diesem Moment konnte Jo zum ersten Mal erahnen, in was für einen Mann Whit sich später verwandeln würde. Der Grundstein für seinen Charakter war damals bereits gelegt, Jo wurde aber vom Optimismus des wolkenlosen Sommerhimmels geblendet, und die sanfte Brise, die ihr über den Nacken strich, lullte sie ein. Sie stand barfuß im Sand, und die Hitze floss vom Spann der Füße hinauf bis in ihre Schenkel. Mit Whit zusammen zu sein füllte irgendwie die Leere in Jos Knochen. Wenn er bei ihr war, hatte sie fast das Gefühl, dass ein kleines Stückchen von Henry wieder zum Leben erwachte. »Okay«, sagte Jo schließlich und kniete sich neben Whit, um ihm zu helfen. Sie kicherte. »Dann halten wir hier als Komplizen zusammen.«
In dem Moment tat Whit etwas, das sie nie vergessen würde. Damals schien es eine unschuldige Geste zu sein, aber sie würde später zu schwären beginnen, so wie ein im Fleisch vergrabener Dorn zu einer Entzündung führt. Der Junge wischte sich die Haare aus den Augen und ließ von dem Motorrad ab. »Wir halten bei allem zusammen«, verkündete er, spuckte sich in die Hand und hielt sie ihr dann entgegen.
»Wir halten zusammen«, bekräftigte sie, spuckte in ihre Handfläche und presste sie gegen Whits. Einen Augenblick lang sagte keiner von ihnen ein Wort, und der Punkt, an dem ihre Hände sich trafen, wurde langsam immer wärmer.
Jo stand auf. »Komm schon, lass uns zurückgehen. Ich wette, dass die Weatherly-Brüder schon auf ihr Motorrad warten.«
Da sagte Whit etwas Unerwartetes. »Meine Mutter will das Gelände von deiner Mom kaufen. Ich hab’s genau gehört«, erklärte er. »Aber keine Angst. Ich sorge dafür, dass euer Salz sicher ist.« Jo trat einen Schritt zurück und stolperte dabei über einen Stein. Sie hatte nicht das Temperament von Claire, die mit ihren drei Jahren wahre Tobsuchtsanfälle bekam, aber dieser Kommentar ging ihr durch Mark und Bein und setzte sich in ihrem Kopf fest. Sie dachte daran, wie Ida ihr bei Henrys Trauerfeier zugefaucht hatte: »Es hätte dich treffen sollen.«
Jo trat vor und versetzte Whits Schulter einen Stoß. »Halt bloß den Mund, Whit Turner. Du weißt ja gar nicht, was du da sagst.« Sie spuckte aus.
Whit zuckte mit den Achseln und zog dann ohne sie in Richtung Dünen ab. »Wie du meinst«, sagte er. »Ich erzähle dir ja nur, was ich gehört habe.« Er blieb stehen und hielt ihr die Hand hin. »Kommst du? Wir können noch eine Runde auf dem Ding
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