Das Geheimnis der Salzschwestern
drehen, bevor ich es zurückbringe.«
Jo zögerte. Sie wusste, dass ihre Mutter in diesem Moment ein kaltes Glas Milch und ausgekühlte Plätzchen für sie bereitstellen, mit zusammengekniffenen Augen zur Uhr hinübersehen und sich fragen würde, wo sie bloß steckte. Aber dann war da auch noch Whits Hand, die er ihr einladend entgegenhielt. Jo griff danach.
»Keine Angst«, beruhigte er sie und zog sie mit sich, so als hätte er nie etwas anderes getan. Er bewegte sich mit der Grazie, die ihrem Bruder immer gefehlt hatte. »Das ist doch alles nur Erwachsenen-Kram. Damit haben wir nichts zu tun.«
»Sicher«, antwortete sie. Aber das stimmte überhaupt nicht, es war eine Lüge, wie sie nur eine wahre Gilly erzählen konnte.
Whit war Jos erster, letzter und einziger Freund. Ihre Beziehung war eine Hintertreppenfreundschaft, die sie heimlich auf Drake’s Beach führten, nur bei gutem Wetter, und nur sie zwei. Die Röcke wurden weit, dann gerade und schließlich kurz, Elvis erschien mit seiner schmalzigen Haarlocke und den verrückten Hüften auf der Bildfläche, aber im kleinen Universum von Whit und Jo blieb alles gleich.
Sie brachte Whit bei zu fischen, Steine auf dem Wasser hüpfen zu lassen, auf zwei Fingern zu pfeifen und zu schnitzen, und er zeigte ihr, wie man Walzer tanzte, rauchte und auf Französisch fluchte. Wenn sie auf die gleiche Schule gegangen oder sich in denselben Kreisen bewegt hätten, hätte ihre Freundschaft vielleicht gar nicht überdauert, aber unter den gegebenen Umständen schienen ihre Unterschiede sie eher enger zusammenzuschweißen als zu trennen. Beide wussten, dass sie vom anderen nicht allzu viel erwarten konnten, und auf diese Art und Weise machten sie mit ihrer Freundschaft jedes Jahr beim Erblühen des Frauenschuhs da weiter, wo sie sie vor dem ersten Schneefall aufgehört hatten.
»Hey«, rief Whit immer als Erstes, wenn er Jo nach dem langen Winter sah. »Du hast dich ganz schön rar gemacht.«
»Aber nicht so rar wie du«, knurrte sie dann, und sie brachen beide in Gelächter aus. Whits Lachen, das ganz tief aus dem Bauch herauskam, war einfach ansteckend. Damals dachte sie, es läge daran, wie verrückt seine Streiche und Mätzchen waren, aber mit der Zeit kam sie zu dem Schluss, dass sein Lachen entweder für oder gegen einen war. Whit konnte noch so nett sein, sein Lachen ließ keinen Zweifel daran, dass man bei ihm besser auf der Hut war.
Ein Frosch war der Anlass für ihre Blutsbrüderschaft, als Jo acht war und Whit sechs. Normalerweise tollten sie am Strand herum, aber dieses Mal hatte Whit sie getriezt, bis sie ihn in die Marsch mitgenommen hatte. Seit sie ihm das Gelände dort zum ersten Mal gezeigt hatte, plagte ihn nämlich die Neugier.
Bei dem Frosch handelte es sich um ein Exemplar mit breiter Brust und heiserem Quäken, das in einem Büschel Seegras hockte. Whit hielt ihn fest, und Jo staunte, wie menschlich seine knubbeligen Zehen doch aussahen. »Wir sollten ihm einen Namen geben«, schlug sie vor. »Nennen wir ihn doch Sir Grünherz.« Seit Henrys Tod hatte sie seine Bücher über Ritter und Piraten verschlungen.
Whit sah sie schief an. »Das ist ein Frosch, Jo, kein Prinz. Aber du kannst ihn gerne mal küssen.« Er fuchtelte mit dem Tier vor Jos Mund herum, doch so schnell war sie nicht aus der Fassung zu bringen.
»Lass ihn los.« Das arme Ding wand sich und zappelte in Whits Hand.
»Was? Bist du verrückt? Der ist doch super, um meine Gouvernante zu erschrecken.«
Jo stemmte die Hände in die Hüften. »Ich meine das ernst!«
»Und ich auch. Stell dir das doch mal vor. Die schlägt heute Abend ihr Bett auf, und voilà! Sie hat Gesellschaft zwischen den Laken!« Der Frosch zuckte erneut, und Jo wünschte sich wirklich, dass Amphibien Zähne hätten. Bevor Whit irgendetwas dagegen tun konnte, machte sie einen Satz nach vorn und schlug seine Hände auseinander. Der Frosch war endlich frei und hüpfte ins Schilf.
Whit lief dunkelrot an. »Was für ein feiges Mädchen du doch bist, Jo Gilly!«
Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Und du bist ein gemeiner Kerl, du Blutsauger!«
Sie erwartete eigentlich, dass er kontern würde, stattdessen griff er nach ihrer Hand. Als sie eine Faust machte, berührte er sie am Handgelenk, genau dort, wo er ihren Puls spüren konnte. »Pst«, hauchte er. »Nicht bewegen!« Er öffnete ihre Finger.
Sie spürte einen Stich auf der Handfläche. »Au!«
Whit grinste sie an. Sie sah, dass er sein Taschenmesser
Weitere Kostenlose Bücher