Das Geheimnis der Salzschwestern
geöffnet hatte und es nun über seine eigene Hand hielt. Dann stach er zu, und es bildete sich ein Blutstropfen. »Reich mir die Hand.« Er griff nach ihrer verwundeten Handfläche und presste die seine dagegen. Jo spürte, wie sich die warmen Flüssigkeiten auf ihrer Haut vermengten. »Jetzt sind wir Blutsgeschwister«, verkündete Whit nach einer Weile, ließ los und klappte sein Taschenmesser zu, »und gehören für immer zusammen. Was auch passiert, es ist immer ein bisschen von dir in mir und von mir in dir. Ich weiß doch, wie sehr du deinen Bruder vermisst, aber jetzt bist du nie wieder allein.«
Jo schossen Tränen in die Augen. Whit hatte überhaupt nichts begriffen. Sie wollte Henry doch nicht zurück. Sie wünschte sich einfach nur, er wäre nie gegangen. Aber was wusste Whit Turner schon! So ein privilegiertes Einzelkind, der letzte kleine Turner-König, hatte doch keine Ahnung davon, wie es sich anfühlte, die Hälfte eines größeren Ganzen zu sein. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und schniefte.
»Danke.« Sie versuchte es so klingen zu lassen, als meinte sie es ernst, und Whits Brust schwellte vor Stolz. Jo sah ihm nach, als er die Straße entlang davonschlenderte. Die Umschläge seiner Bügelfaltenhose starrten vor Dreck. Dann beugte Jo sich über eins der Verdunstungsbecken und schöpfte etwas von dem Salzwasser in ihre hohle Hand, wo es in der Wunde stach und sie reinigte. Wenn sie schon einen Tropfen Turner-Blut in ihrem haben sollte, wollte sie es wenigstens etwas verdünnen, um auf der sicheren Seite zu sein. So gut es ging wischte sie sich den Schmutz von den Kleidern und eilte dann zurück zum Haus, bevor ihrer Mutter noch auffiel, dass sie nicht da war. Einerseits fühlte sie sich irgendwie anders, andererseits jedoch wie immer. Bei einem so gewöhnlichen Menschen wie ihr funktionierte Whits Hokuspokus vielleicht gar nicht. Die Idee gefiel ihr, denn das hieß ja, dass sie genau dort war, wo sie hingehörte. Als sie gerade das Fliegengitter vor der Tür öffnen wollte, glaubte sie, in der Ferne den Ochsenfrosch quaken zu hören.
Jo hatte den Eindruck, dass sie für Whit wie eine Höhle war – ein dunkler Ort, an den er sich zurückziehen konnte, um endlich mal seine Ruhe zu haben. Whit stellte für sie genau das Gegenteil dar. Er zog sie aus dem Pfuhl der Marsch und machte ihr Beine, brachte sie der großen weiten Welt ein Stückchen näher, selbst wenn die nur aus Prospect bestand.
»Wusstest du, dass Mr Upton eine Freundin in Hyannis hat?«, erzählte er ihr, als er ihr eines Nachmittags auf dem Markt begegnete, wo Jo mit ihrer Mutter einkaufte. »Angeblich eine Chinesin. Sie arbeitet dort in einer Apotheke.«
Er wusste auch, dass die Postangestellte manchmal die Briefe anderer Leute las, wenn ihr langweilig war, dass zwischen den Nachschlagewerken der Bibliothek ein Buch über Sex versteckt war und dass in Fletcher’s Tavern manchmal geheime Glücksspielabende abgehalten wurden, wenn die Fischer in den Hafen zurückkehrten. Durch Whit erfuhr Jo, dass selbst in einem verschlafenen Nest wie Prospect hinter den Kulissen so einiges los war.
Im Laufe der Zeit entwickelten Jo und Whit eine Zeichensprache, um sich in der Kirche zu verständigen. Fünf weit ausgestreckte Finger waren eine Warnung: »Heute schaffe ich es nicht, aber ich kann jetzt nicht mehr dazu sagen.« Zwei geballte Fäuste bestätigten das vorgesehene Treffen an diesem Tag, und eine hohle Hand hieß: »Ich hab eine Überraschung für dich.« Ida brauchte mehrere Sommer, um hinter ihr Kommunikationssystem zu kommen, doch als es schließlich so weit war, fing sie augenblicklich damit an, die beiden zu boykottieren. Sie passte Jo zum Beispiel ab, wenn sie hereinkam, packte sie am Arm und erzählte ihr triumphierend: »Whit ist heute den ganzen Tag mit einem hübschen Mädchen vom Festland zum Tennis verabredet, also kannst du nach der Messe beruhigt in die Marsch zurückkehren. Er würde dir das ja gern selber sagen, aber er muss sofort los.«
Inzwischen standen die beiden Freunde bereits an der Schwelle zur Pubertät, und Jo fiel auf, dass Ida, je älter Whit wurde, immer häufiger weibliche Begleitung für ihren Sohn arrangierte. Sie mobilisierte alle Annabels, Merediths und auch die letzte Elizabeth am Kap und setzte sie ihrem Sohn im Country Club oder auf Partys bei ihnen zu Hause vor die Nase. Allerdings konnte keine von ihnen auf einer Hornpfeife blasen, und sie lachten auch nicht über Whits
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