Das Geheimnis der Salzschwestern
blöde Witze. Beim Gottesdienst setzte sich Ida nun zwischen Whit und den Mittelgang, um ihn von Jo abzuschirmen, aber vergeblich. Als Jo fünfzehn und Whit dreizehn war, hatte sich die Bindung zwischen ihnen nur noch mehr gefestigt.
Mama fand das genauso furchtbar wie Ida. »Lass diesen Whit Turner nie wieder auch nur den kleinen Zeh auf unser Land setzen«, warnte sie Jo, nachdem sie die beiden draußen in der Marsch erwischt hatte. »Wahrscheinlich schickt ihn seine Mutter her, damit er uns ausspioniert. Er soll Ida ruhig sagen, dass sie auf unser Gut warten kann, bis sie schwarz wird!«
Von diesem Tag an musste Jo Claire immer überallhin mitnehmen. Die Achtjährige war schlimmer als ein Papagei, eine eigene kleine Einheit der Geheimpolizei. Wenn sich Jo heimlich noch ein Stück Kuchen nahm oder beim Abschöpfen der Becken auch nur ein einziges ausließ, dann zählte Claire ihre Sünden beim Abendessen eine nach der anderen genüsslich auf.
»Jo und Whit haben sich heute einen Eskimokuss gegeben«, erklärte sie kurz nach dem Vorfall in der Marsch und warf ihr Haar nach hinten. »Ich hab Jo gesagt, dass ich dir das erzähle, und dann hat sie das hier gemacht.« Sie hielt den Arm hoch und zeigte, wo Jo sie gekniffen hatte. Jo seufzte. Selbst ihre Haut verheimlichte nichts.
»Whit hat dir doch auch einen Eskimokuss gegeben«, knurrte Jo, woraufhin Claire zumindest rot anlief.
Ihre Mutter blickte finster drein und gab Rindfleischsoße über die Erbsen. »Wenn Ida das mitkriegt, dann könnt ihr euch auf was gefasst machen. Bestimmt verschlingt sie euch mit Haut und Haar.«
Mit Ida zu drohen war gar keine schlechte Idee. Keiner wusste, wozu Ida fähig war, weil in ihrer Vergangenheit so vieles im Dunkeln blieb. Die Leute in Prospect kannten ihre bescheidenen Anfänge, und natürlich war es keinem möglich, ihre aktuelle soziale Stellung zu ignorieren. Was jedoch dazwischen geschehen war, konnte man nur mutmaßen.
Als Ida siebzehn war, so hieß es, hatte sie es sich mit der dem Alkohol zugetanen Geliebten ihres Vaters, die in der Hütte der Familie herumlungerte, all den stocksteifen Mitgliedern der Temperenzler-Wohlfahrt, sämtlichen Lehrern der Prospect High und jedem Mädchen weit und breit verscherzt. Sie hatte nur zwei Menschen gern, nämlich ihre Schwester und Pater Patrick Flynn, bei dem sie zur Erstkommunion und zur Firmung gegangen war und bei dem sie jeden Samstag die Beichte ablegte, bis sie irgendwann zu einer Art Kleinstadt-Isebel herangereift war und Prospect den Rücken kehrte.
Keiner fand je heraus, wohin sie gegangen war. Einige sprachen flüsternd von Boston oder Concord, während andere annahmen, dass sie es sogar bis Paris geschafft und dort gelernt hatte, Nahtstrümpfe, Goldschmuck und Lippenstift in frevelhaftem Korallton zu tragen. In der Stadt machten allerdings auch andere Theorien über das Wie die Runde: Einige behaupteten, sie sei mit einer Gruppe Zigeunermusikanten durchgebrannt, andere, sie habe heimlich einen reichen alten Mann geheiratet und bei dessen Tod sein gesamtes Vermögen geerbt, sie arbeite in einem Tanzlokal oder noch Schlimmeres. Und dann gab es noch diejenigen, die munkelten, dass Ida Dunn in Wirklichkeit nicht weiter als bis zum Wohlfahrtsheim der Temperenzler für mittellose Frauen und verwaiste Kinder gekommen war, wo sie ein Baby zur Welt gebracht und die mühselige Kunst der Kreuzstichstickerei und Spitzenarbeit erlernt hatte.
Ida äußerte sich nie zu diesen Gerüchten, und das musste sie auch gar nicht. Anderthalb Jahre nach ihrem Verschwinden aus der Stadt tauchte sie bei der Beerdigung ihres Vaters wieder auf. Am Grab trug sie geschmeidige Kalbslederstiefel mit acht Zentimetern Absatz, die den Boden unter ihren Füßen durchlöcherten, und ein geräuschvoll klimperndes Bettelarmband mit einem Miniaturanker, einem perlenbesetzten Kreuz und einem Herzen. Außerdem war sie in ein schwarzes Strickkleid gehüllt, das zwar Knöchel, Knie und Handgelenke bedeckte, aber trotzdem nur wenig der Fantasie überließ.
Nach der trostlosen Zeremonie ließ sie ihre schwachsinnige Schwester abholen und in eine staatliche Einrichtung bringen, dann ging sie zu Fletcher’s Tavern hinüber und bestellte ein Gläschen des teuersten Scotch, den sie dort hatten. Sie hatte kaum daran genippt, da ertönte an ihrem linken Ohr plötzlich eine Männerstimme. »Normalerweise trinken Damen doch nichts Hochprozentiges, außer sie sind hundertprozentig trübsinnig.«
In Jos Vorstellung
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