Das Geheimnis der Salzschwestern
und ließ die Schaufel fallen. Dann erkannte sie ihren Freund daran, wie er den Kopf zur Seite legte, und ihr klopfendes Herz beruhigte sich langsam wieder. Er pfiff die drei Töne, die sie in dem Sommer als geheime Erkennungsmelodie festgelegt hatten, als er zehn und sie zwölf war, und kam auf sie zu.
»Was zum Teufel machst du denn hier?«, fragte sie.
Er griff nach ihren Händen, seine Stimme zitterte ein wenig, als würde er mit den Tränen kämpfen, aber das konnte nun wirklich nicht sein, dachte Jo, denn Whit Turner weinte schließlich nie. »Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden. Meine Mutter hat mir gerade gesagt, dass ich schon früher ins Internat fahre.«
Jo biss sich auf die Lippe und unterdrückte jedes Gefühl des Bedauerns. Die Menschen, die sie liebte, gingen immer irgendwann fort: Henry, ihr Vater und jetzt auch noch Whit. Der Sommer war nun mal vorbei, und sie wurden wieder ein Jahr älter. Im Winter sahen sie einander ohnehin kaum. Während Jo versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren, ließ Whit ihre Hände los und suchte in seiner Tasche herum.
»Ich hab dir was mitgebracht.« Er zog ein kleines Päckchen hervor, das in glänzendes Papier eingeschlagen war, und wartete darauf, dass Jo es öffnete. Unter dem Geschenkpapier stieß sie auf eine kleine Samtbox, und als sie sie öffnete, entdeckte Jo darin ein herzförmiges Medaillon an einer silbernen Kette. Whit nahm ihr das Schmuckstück aus der Hand und trat hinter sie, so dass er es ihr umlegen konnte.
»Das hat mich an dich erinnert«, erklärte er und klopfte mit dem Fingernagel gegen das Medaillon. »Hart, aber trotzdem schön.« Mit solchen Schmeicheleien kam er ihr zum ersten Mal, und Jo war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel. Sie streckte die Finger aus und griff nach der Kette.
»Was ist das denn?«, fragte sie und kniff die Augen zusammen.
Whit wurde rot. »Ich hab es gravieren lassen. Mit einem W, damit du immer an mich denkst.«
Jo stockte der Atem. War Whit denn verrückt geworden? Sie konnte doch nicht mit seiner Initiale um den Hals durch die Stadt stolzieren. Ida würde sie umbringen, wenn sie den Anhänger je zu Gesicht bekäme, ganz zu schweigen von ihrer eigenen Mutter. So etwas trug schließlich ein Mädchen, wenn es mit einem Jungen zusammen war, und Jo war nicht mit Whit zusammen. Sie griff nach hinten und öffnete den Verschluss so schnell sie konnte, dann ließ sie die Kette in Whits Hand gleiten. »Die kann ich nicht behalten.«
Whits Finger schlossen sich um die ihren wie ein Fragezeichen. »Warum denn nicht?« Seine Miene war offen und weich wie die eines Babys, doch sein Blick klarer als je zuvor. Plötzlich presste er ohne jede Vorwarnung seine Lippen auf Jos, und seine Zunge drängte gegen ihren Mund, bis sie ihm endlich entgegenkam und den Kiefer ein klein wenig öffnete. »Entspann dich«, flüsterte Whit. »Das macht man so, wenn man sich liebt.« Und Jo wollte ja auch, aber irgendetwas fühlte sich hier furchtbar falsch an. Sie hatte immer angenommen, dass ein Kuss von Whit so selbstverständlich sein würde, wie barfuß mit ihm den Strand entlangzulaufen, aber so war es überhaupt nicht. Gut, es war tatsächlich wie ein barfüßiger Spaziergang, aber über spitze Steine, die ihr in die Sohlen schnitten.
Sie machte sich jäh los. »Die Liebe ist was für Dummköpfe, Whit Turner«, verkündete sie, weil ihr nichts Besseres einfiel, und wandte sich von ihm ab.
»Jo, bitte!«, rief Whit laut, aber sie lief bereits davon, gehorchte dem Drang, sich so weit wie möglich von ihm zu entfernen. Sie hastete durch die dunkle Marsch und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Whits Geschmack – ein milchiges, feuchtes Aroma, das sie nicht benennen konnte – erfüllte sie noch immer. Sie spuckte in den Schlamm.
Schließlich landete sie in St. Agnes. Weil sie befürchtete, dass Whit ihr gefolgt war, schob sie die Kirchentür auf und huschte hinein. Heute Abend flackerte nur eine einzige Kerze zu den bemalten Füßen der Muttergottes, also zündete Jo eine weitere an und kniete nieder. Die losen Bretter des Fußbodens gaben unter ihrem Gewicht ein wenig nach. Der altbekannte Geruch nach trockenem Putz und Staub kitzelte sie in der Nase, aber an diesem Abend war ihr die Vertrautheit dieser Dinge nur ein schwacher Trost.
Als sie sich das leere Gesicht der Gottesmutter so von Nahem ansah, wirkte das blanke Oval in der Dämmerung noch viel intensiver, tief wie ein bodenloser Pfuhl. Vielleicht
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