Das Geheimnis der Salzschwestern
stecken bis über beide Ohren im Schlamm. Egal, ob wir uns nun heute darüber unterhalten, oder morgen, oder in drei Tagen.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Jo und knotete einen weiteren Jutesack mit grauem Salz zu. »Hier draußen läuft die Zeit eben langsamer.«
Aber da lag sie falsch. In diesem Jahr würde der Wechsel vom Sommer zum Herbst etwas Neues mit sich bringen, und dann würde ihr Leben nie wieder so sein wie zuvor.
Bevor er Priester wurde, war Ethan Stone einfach nur ein ganz normaler Junge, der am Rande von Prospect in einem grauen, für das Kap typischen Haus in der Nähe der Docks lebte, wo die zwei Dieselkähne von seinem Vater und seinem Onkel lagen. Es war doch irgendwie ironisch für Seeleute, dass ausgerechnet sie Stone, also »Stein«, hießen, aber der Name passte zu den Stone-Männern, die Ecken und Kanten hatten, maulfaul und rauer als Granit waren. Neun Monate des Jahres fuhren sie bei jedem Wetter tagein, tagaus mit ihren Booten hinaus und brachten das zurück, was der Atlantik ihnen überließ. Makrelen. Jungen Kabeljau. Gelegentlich ein, zwei Hummer. Im Herbst dann Dorsch. Während der restlichen drei Monate des Jahres, in denen das Meer sich aufbäumte und vor Wut schäumte, in denen das Wasser an Deck gefror, vertrieb sich Chet mit einer ungewöhnlichen Tätigkeit die Zeit: Er strickte, während sich Ethans Vater Merrett auf dem Hocker einer Kneipe lümmelte, die so schäbig war, dass sie nicht einmal einen Namen hatte.
Für einen Mann wie Merrett musste ein Kind wie Ethan die reinste Qual gewesen sein. Denn während er selbst wie ein Eisberg war, der einsam auf dem Meer trieb, war sein Sohn wie die Schaumkrone oben auf den Wellen. Als Jugendlicher war Ethan dem Fischfang durchaus zugetan, aber er sah seinem Onkel auch gerne beim Stricken zu. Schlimmer noch, er mochte Gedichte sowie die harmonischen Strukturen klassischer Musik, und es war ihm eine besondere Freude, Pater Flynn als Messdiener zu assistieren. Nachdem der Priester herausgefunden hatte, dass Ethan singen konnte, ließ er ihn die Psalmen vortragen, mit heller Stimme, die reiner war als die jedes Mädchens. Selbst Ethans kränkliche Mutter Ellen saß dann mit unter dem Kinn gefalteten Händen und zitternden Lippen wie verzaubert da, während Merrett nur finster dreinblickte.
»Diesen Jungen hat Gott mit einer goldenen Kehle gesegnet«, bemerkte Claires Mutter seufzend, Claire aber wäre bei diesen Worten am liebsten nach vorne marschiert und hätte Ethan mit der Faust zum Schweigen gebracht.
In jenem Sommer, als sie fünfzehn waren, erschien Ethan nicht mehr regelmäßig zur Messe, weil er seinem Vater auf dem Boot half, und in St. Agnes fehlten allen die Höhen und Tiefen seines Gesangs. Seine Stimme hatte sich im Lauf der Jahre verändert, aber ihr Klang hatte nichts an Süße eingebüßt, sondern war vielmehr reicher geworden, wie ein Nachtisch, der im Ofen noch besser wird. Während Claire die ganze Messe über nörgelte und zappelte, und andere Jungen aus der Stadt mit den Händen in den Taschen schmollten, verfolgte Ethan den Gottesdienst immer andächtig. Wenn er am Altar die Kerzen anzündete, waren seine Bewegungen so geschmeidig, dass die Flammen nicht einmal flackerten, und aufgrund ihres eigenen unseligen Verhältnisses zu den Kerzen hier in der Kirche fragte Claire sich immer, wie er das wohl anstellte.
Erst Ethans Abwesenheit machte Claire überhaupt auf ihn aufmerksam, und da war sie nicht die Einzige. Nach dem Ende der Fischereisaison erschien Ethan am ersten wirklich kalten Tag im Herbst 1965 wieder in der Kirche. Auf einmal reckten alle Frauen in der Gemeinde den Kopf, um einen besseren Blick auf den jungen Mann mit der Engelsstimme zu erhaschen, der offensichtlich ein neues Kapitel aufgeschlagen hatte.
Zunächst einmal war er jetzt so groß wie Merrett, sein Nacken und seine Schultern ebenso breit. Aber während Merrett sich mit stählerner Entschlossenheit fortbewegte, die Fäuste immer dicht am Körper, trat Ethan mit der Grazie und Anmut eines Gentlemans auf. Seine Augen waren blau wie der Ozean an den tiefen Stellen, wo die größten Fischschwärme schwammen, und die Sonne hatte sein Haar strohblond gebleicht.
»Der Junge ist losgezogen und hat sich in einen griechischen Gott verwandelt«, hörte Claire Mrs Butler einer Freundin zuflüstern, und darüber musste selbst Jo lächeln.
Während der ganzen Messe konnte Claire den Blick nicht von Ethan abwenden. Als sie sich erhob, um zur
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