Das Geheimnis der Salzschwestern
der sie ihr Mittagessen mitgebracht hatte. Sie wünschte, sie könnte sich auf eine Zigarette aus der Schule schleichen. Danach wäre ihr Atem nämlich nicht nur schnaufend genug, um sie vom Sportunterricht zu befreien, es wäre auch ihrem Plan zuträglich. Sie wünschte sich mehr als alles andere auf der Welt, dass Ethan nicht mit Abigail zum Feuer gehen würde. »Er wird aber gar nicht da sein«, behauptete sie, noch bevor sie darüber nachgedacht hatte.
Abigail verzog das Gesicht. »Wieso denn nicht?«
»Weil er diesen Abend mit mir verbringt.« Sobald sie es ausgesprochen hatte, wusste sie, dass es stimmte. Ethan war nicht am Getümmel interessiert, an kreischenden Mädchen, sprühenden Funken und Jungen, die versuchten, so viel Bier wie möglich unter ihrer Jacke zu verstecken. Er war jemand, der die Regale der Stadtbücherei nach Gedichten von Wordsworth und Shakespeare-Stücken über Könige durchforstete. Innerlich war er so wie sie, davon war Claire überzeugt. Auch er sehnte sich nach der abgeschiedenen Ruhe einer felsigen Insel.
Abigail klappte die Kinnlade herunter. »Aber warum sollte er sich denn ausgerechnet mit dir treffen? Du kannst ja nicht einmal beim Feuer bleiben. Du bist doch eine Gilly.«
Claire stand auf und lächelte. »Eben.« Und bevor Abigail sie aufhalten konnte, oder sie es sich womöglich noch einmal anders überlegte, ging sie direkt auf Ethan zu, schlang die Arme um ihn und gab ihm vor aller Augen ihren ersten Kuss. Ethans Lippen fühlten sich kühl an, aber das war schon in Ordnung, sagte sie sich. Sie war heißblütig genug für sie beide. Sie brauchte kein Dezemberfeuer, um Ethan Stones Herz in Flammen zu setzen.
Am Vorabend des 1. Dezember war in Claires Magen alles verkrampft, als sie ihrer Mutter und Jo zum Feuer folgte. Würde Ethan wie versprochen beim Birnbaum auf sie warten, fragte sie sich. Die Aufregung schnürte ihr die Kehle zu, als sie sich dem Rand von Tappert’s Green näherte.
Genau in diesem Moment erklang in der Dunkelheit eine vertraute Stimme: »Na, du hast dich ja ganz schön verändert, kleine Claire.« Sie blieb stehen und fuhr herum. Es war Whit Turner, der vor kurzem mit einem Harvardabschluss in der Tasche heimgekehrt war. In den letzten acht Jahren hatte Claire ihn kaum zu Gesicht bekommen. Erst war er mit dreizehn ins Internat gegangen, und dann war seine Mutter recht plötzlich gestorben, wie Claire jetzt wieder einfiel. Das hatte Whit ziemlich mitgenommen. Danach hatte er die Salt Creek Farm – und Jo – nie wieder besucht. In den letzten Jahren war er kaum in Prospect gewesen. Claire hatte Geschichten über sein glamouröses Leben in der Stadt gehört: An Weihnachten ging er mit Freunden Skifahren, und er gehörte in Harvard irgendeinem geheimen Club an. Die Ostertage hatte er sogar auf dem Familiengut eines Freundes in Schottland verbracht, wo es fantastische Golfplätze gab.
Aber diese Zeiten waren jetzt vorbei. Nun war Whit wieder zu Hause, um die Geschäfte der Familie zu übernehmen. Hamish hatte ziemlich abgebaut, und das Klima am Kap bekam ihm nicht mehr. Den Winter verbrachte er schon seit jeher mit seiner langjährigen Geliebten in Palm Beach, und nach Whits Heimkehr gab es keinen Grund mehr, warum er nicht auch die restliche Zeit dort mit ihr verbringen sollte.
Aus der Nähe betrachtet war Whit sogar noch attraktiver, als Claire ihn in Erinnerung hatte, in seinen dunklen Augen funkelte der alte jungenhafte Charme, sein Mund war stets bereit, sich zu einem Grinsen zu verziehen und sie mit seinem Lachen anzustecken. Er trug einen Kaschmirmantel und feine, teure Schuhe. Sein Haar war perfekt geschnitten und hüllte seinen Schädel in seidige Locken. Er war ganz offensichtlich ein Mensch, der alles hatte, was er sich wünschte, dachte Claire neidisch. Er hatte einen Uniabschluss. Er hatte Geld. Ihm gehörten hier Ländereien, so weit das Auge reichte – und vermutlich auch noch darüber hinaus. Was er jedoch nicht hatte, war eine Frau. In ihrer frühen Kindheit wäre Claire jede Wette eingegangen, dass Jo einmal diese Rolle übernehmen würde, aber seit dem Sommer, in dem Ida gestorben war, war zwischen Whit und Jo nichts mehr so wie früher. Whit war aus ihrem Leben verschwunden, und Jo sprach niemals darüber.
Whit ließ seinen Blick über Claires neue frauliche Formen wandern. »Du hast dich verändert«, murmelte er und zwang sich, ihr wieder ins Gesicht zu sehen. »Aber deine Haare nicht.« Zufrieden über seine anerkennende
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