Das Geheimnis der Salzschwestern
das Schicksal all dieser Menschen in der Hand zu halten. Sie hätte sich damit stark und mächtig fühlen sollen, das war ihr klar, als ob sie eine besondere Gabe hatte und mehr in der Welt sah als der Rest, aber so war es eben nicht. Stattdessen fühlte sie sich immer nur schuldig, seit sie das Salz zum ersten Mal den Flammen übergeben und ihnen die fürchterliche schwarze Rauchsäule entlockt hatte. Selbst mit ihren sechs Jahren hätte Claire den Menschen der Stadt damals schon verraten können, dass sie bei ihr nie etwas anderes als eine düstere Zukunft bekommen würden, aber sie wusste auch, dass ihr niemand zugehört hätte. Nicht, bis sie erwachsen war und es ihnen bewies.
Sie hielt die Hand über ihre Kerze, spürte die Wärme auf der Haut und sah ihre Schwester an. Wenn Jo mit dem Salz an der Reihe war, passierte nie etwas Schlimmes, aber deshalb mochten die Menschen in der Stadt sie trotzdem nicht lieber. In den Augen von Prospect war eine Gilly eben eine Gilly. Claire seufzte. »Warum müssen wir das Salz überhaupt ins Feuer werfen?«, fragte sie zum hundertsten Mal.
Jo biss sich auf die Lippe und zuckte mit den Achseln. »Weil das immer schon so war.«
»Und wenn wir einfach damit aufhören?«
Jo sah erstaunt aus. »Wie meinst du das?«
»Was wäre, wenn wir das Salz nicht mehr ins Feuer werfen würden? Was, wenn es überhaupt kein Feuer mehr gäbe?«
Jo stand auf. »Das halte ich für keine gute Idee, Claire.« Ohne ein weiteres Wort wandte sie ihr den Rücken zu und beendete damit die Unterhaltung. Claire zappelte vor Ungeduld und lehnte sich vor, um ihre Kerze auszublasen. Das Feuer flackerte und griff nach ihren Haaren, Jo beugte sich jedoch hinunter und pustete die Flamme in letzter Sekunde aus.
»Erzähl Mama bloß nicht, was du da gerade von dir gegeben hast«, knurrte sie. »Und zum Dank dafür«, sie deutete auf den erloschenen Docht, »kannst du meine Schicht übernehmen und nachher die Becken auskratzen.«
Claire begann nur mit dem Rauchen, um das Schicksal herauszufordern. Sie gewöhnte es sich an, als sie sich im Sommer draußen am Kap auf den Partys der reichen Kids herumtrieb. Dort wurden nur herbe, billige Zigaretten gepafft, französische Marken ohne Filter oder welche mit Nelken. Claires asthmatische Lunge ächzte und bäumte sich bei jedem Zug auf, aber sie liebte es, den zarten Stängel zwischen den Fingern zu halten, dem Knistern zu lauschen und die Kippe dann mit dem Ballen des Fußes auszutreten. Gut, sie verbrannte sich jedes Mal und versuchte sich irgendwie herauszureden, wenn Mama die kreisrunden Löcher in ihren Kleidern oder die Narbe an ihrem Handgelenk entdeckte, mit dem sie einen glühenden Stummel gestreift hatte.
In der zehnten Klasse weigerte sie sich schließlich, neben den schmuddeligen Klassenkameraden zu sitzen, die auf der anderen Seite der Stadt wohnten und deren Väter als Tellerwäscher in den Austernbuden für die Touristen arbeiteten, auf Fischerbooten anheuerten oder einen Schrottplatz besaßen. Sie lernte, ihre Röcke gemäß der vorherrschenden Mode zu kürzen oder zu verlängern und achtete darauf, dass ihre Haare immer akkurat geschnitten waren, selbst wenn sie sie meist zum Zopf flocht. In Swensons Kramladen suchte sie sich dafür ein Haarband in der genau passenden Farbe aus.
Sie bewarb sich für das Cheerleading-Team und wurde tatsächlich aufgenommen. Dann machte sie beim Komitee für das jährliche Alumnitreffen und beim Jahrbuch mit und aß schließlich gemeinsam mit Katy Diamond, Cecilia West und Abigail Van Huben zu Mittag: mit dem Triumvirat der Prospect High. Weil sie zum ersten Mal glücklich war, wurden sogar ihre Noten besser.
»Und bald gehst du aufs College«, flüsterte ihre Mutter ihr abends zu und strich ihr mit rauen Fingern übers Haar. »Es ist für alles gesorgt. Ich hab mir Geld geliehen, nur für dich.«
Jo war nach der elften Klasse von der Schule abgegangen, aber es war ja auch kein Geheimnis, dass ihr die Arbeit mit den Händen mehr lag, als ihre Nase in Bücher zu stecken. Claire wurde klar, dass bei ihrer Mutter und Schwester jeder Tag einfach so in den nächsten überging.
»Ich hab die Ostbecken ausgekratzt«, informierte Jo Mama, wenn sie aus der Marsch kam.
»Dann sind jetzt die auf der Westseite dran«, erwiderte Mama.
»Hier draußen ist doch eine Woche wie die andere.« Jo schnaubte, wenn Claire sich über die Eintönigkeit in der Marsch beschwerte. »Wir haben Löcher im Dach, Schnecken im Garten und
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