Das Geheimnis der Salzschwestern
aber in deren Augen hätte sie genauso gut dreißig oder vierzig sein können. Sogar ihre kleine Schwester sah in ihr bereits eine alte Jungfer.
Und tatsächlich hatte sich Jo immer übermäßig züchtig gegeben, schon als Teenager. Claire dachte an die Sommer, in denen Jo und Whit noch so unzertrennlich waren. Sie waren ihr fast schon wie ein Paar vorgekommen, auch wenn sie nie richtig zusammen waren, vielleicht, weil sie sich eben zu gut kannten. Claire war der Meinung, dass es zwischen ihnen einfach keine Geheimnisse mehr gab, und daran war Jo schuld. Selbst mit dreizehn wusste Claire schon, dass ein Mann einer Frau nur dann die Treue hielt, wenn man stets eine gewisse Neugier aufrechterhielt.
Mama schnaubte angesichts von Claires Kommentar. »Gilly-Frauen und Turner-Männer sind die schlimmste Kombination von allen«, erklärte sie und riss in Claires Nacken ein dünnes Haar herunter. »Einem Turner kann man nicht trauen«, fügte sie hinzu und fuhr sich selbst durch den Schopf. »Für zwei Nickel würden die ihre eigene Seele verscherbeln.«
Claire schüttelte die Hände ihrer Mutter ab. »Ich glaube nicht an diese alten Geschichten.«
Mama seufzte. »Wie du meinst.« Dann runzelte sie die Stirn und setzte einen beinahe bedauernden Blick auf. »Vielleicht ist es ja auch besser so.«
Claire wandte sich ab und holte ihren Pullover für die Kirche, aber die Meinung ihrer Mutter blieb ihr im Gedächtnis. Tatsächlich hatte ihre Mutter, auch wenn Claire das in diesem Moment noch nicht wusste, sowohl recht als auch unrecht. Die Turners würden tatsächlich alles verscherbeln – vielleicht sogar ihre eigene Seele – aber niemals für so einen läppischen Betrag.
Anders als Jo hasste Claire alles an der Messe – den muffigen Geruch des Weihrauchfässchens, das unterdrückte Husten und das Scharren der Füße, die wächserne Konsistenz der Hostie auf der Zunge. Woche für Woche neigte sie das Haupt, zeichnete mit zwei Fingern das leere Gesicht der Jungfrau nach und flüsterte dabei eine fortlaufende, wahrheitsgemäße Liste ihrer Sünden, bevor sie diese für Pater Flynns Ohren überarbeitete.
»Dein Herz ist von Zorn erfüllt«, erklärte der Pfarrer mit einem Seufzen hinter der hölzernen Trennwand des Beichtstuhls. »Du musst noch lernen, dass Gottes Wille nicht immer mit dem deinen übereinstimmt. Sag drei Ave Maria.«
»Ich hab das Gefühl, ich stecke in einer Zeitschleife fest«, beklagte sich Claire bei Jo, als sie zusammen zur wöchentlichen Beichte nach St. Agnes gingen. »Wir machen immer wieder das Gleiche. Salz schaufeln und beten und das war’s.«
Aber was dies anging, stand Jo, wie in so vielen Dingen, eindeutig auf der Seite ihrer Mutter. Sie fasste Claire am Arm. »Jetzt komm schon.« Die Mücken taten sich an ihnen gütlich, als sie zuerst am Rande der Marsch und dann die Straße entlangliefen.
»Die fressen mich hier bei lebendigem Leib«, knurrte Claire und schlug nach den nervigen Insekten, die sie doch nie erwischte. Jo hingegen schien die Quälgeister gar nicht zu bemerken. Die lassen sie vermutlich in Ruhe , dachte Claire, weil sie bereits viel zu vertrocknet ist, als dass sich das Stechen lohnen würde.
In der kleinen Kirche angekommen gingen sie zur Muttergottes hinüber und zündeten zwei Kerzen an. Wie üblich brannte Claires Streichholz viel zu schnell ab und versengte ihr die Finger, so dass sie fluchte und die Kerze fallen ließ, deren Glas dabei einen Sprung bekam. »Verdammt«, murmelte sie.
»Claire«, wies Jo sie zurecht. »Solche Ausdrücke sind hier fehl am Platz. Beherrsch dich doch etwas, in Gottes Namen.«
Claire rollte mit den Augen und zündete noch ein Streichholz an. Dieses benahm sich besser. Dann steckte sie sich die verbrannten Finger in den Mund. Jo schüttelte ihr dunkles Haar. Anders als Claire trug sie es offen, ließ es einfach auf die Schultern fallen. Sie machte damit nie irgendwas, und es war trotzdem schön. »Diese Missgeschicke mit dem Feuer müssen wirklich aufhören, Claire«, mahnte Jo. »Denk daran, dieses Jahr bist du beim Dezemberfeuer mit dem Salz an der Reihe.«
Claires Herz zog sich in der Brust zusammen. Wenn sie eins noch mehr verabscheute als den Kirchgang, dann war es das Ritual am Vorabend des 1. Dezember. Nicht nur wegen all der gemeinen Blicke, oder weil sich die Menge teilte, wenn sie herantraten. Es störte sie auch nicht so sehr, dass sie nicht dableiben und mitfeiern konnten – es war viel einfacher als das. Claire hasste es,
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