Das Geheimnis der Salzschwestern
völliger Gewissheit. Zum einen wünschte sie sich so sehr, den Brief nie gestohlen zu haben, denn was sie darin über sich erfahren hatte, hätte sie am liebsten wieder verdrängt. Zum anderen war sie sich dessen bewusst, dass die Worte auf dem Papier in ihrer Hand nicht ihr Geheimnis waren, auch wenn es dabei um sie ging.
Natürlich hätte sie das Richtige tun und Brief wie Perle wieder zur Muttergottes zurückbringen, oder diese Beweise entweder vergraben oder verbrennen sollen. Aber sie war jung, und Geheimnisse können erdrückend sein, wenn man ihre Last nicht gewöhnt ist. Sie hätte sich mit der Bitte um Trost an die Muttergottes wenden sollen, aber der Gedanke an die Jungfrau – gesichtslos, verblichen und mit nahezu farblosem Gewand – ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. In diesem Augenblick wollte sie nicht allein leiden, und sie wusste ganz genau, wem sie deshalb auch das Herz brechen würde.
Sie schob den Brief zurück in den Umschlag und fügte die Kette hinzu. Dann lief sie Plover Hill hinauf, bevor sie es sich womöglich noch einmal anders überlegen konnte. Jetzt stand sie vor dem aufwändig gestalteten Messingbriefkasten des Turner-Anwesens. Vermutlich holte ein Hausmädchen jeden Tag die Post herein, aber Ida würde ihre Nachricht schon bekommen, da hatte Jo gar keinen Zweifel. Sie würde nur nicht wissen, wer sie ihr geschickt hatte. Entschlossen machte Jo den mit Scharnieren versehenen Deckel des Briefkastens wieder zu und trat dann den Rückweg den Hügel hinunter an. Mit einem Blick über die Schulter versuchte sie zu erkennen, ob sich im Haus irgendetwas regte, aber es war nichts zu sehen. Die ganze Familie hatte Whit ins Internat begleitet.
Jo stellte sich vor, wie Ida bei ihrer Rückkehr den Umschlag öffnete und ihr die Perle in die hohle Hand fiel wie ein Schlag. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dieses Schmuckstück jemals wiederzusehen, ein Geschenk, das Ida loswerden wollte, so wie sie einst auch sie weggegeben hatte. Mit sich selbst zufrieden lief Jo knirschend durch das Laub des Birnbaums. Jetzt waren Ida und sie quitt. Und es stellte sich heraus, dass sie einander tatsächlich ziemlich ähnlich waren. Offensichtlich hatte nämlich auch Jo ein Talent dafür, sich ungewollter Dinge zu entledigen.
K APITEL 6
B ei den meisten Menschen sammelt sich der Kummer an wie Staubkörnchen, Claire bedrückte jedoch nur ein großes Leid. Sie hatte nicht den Mann geheiratet, den sie liebte. Die Entscheidung hatte nicht in ihrer Hand gelegen. Das wusste sie, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. Manche Frauen waren dazu geboren, sich als gutes Eheweib zu erweisen, andere kamen auf die Welt, um mit dem Feuer zu spielen. Und sobald Claire den Mutterleib verlassen hatte, wurde mehr als deutlich, welcher Pfad ihr vorherbestimmt war.
Da war zum Beispiel ihr Haar: Es war so rot, wie der Tag lang war, dick und gewellt. In ihrer Kindheit hatte ihre Mutter es stets zu einem Bob geschnitten, als Teenager hatte Claire es sich zu Mamas Leidwesen jedoch wachsen lassen. »Einen Wasserfall aus purer Sünde«, nannte ihre Mutter es, wenn sie es für den Kirchgang bürstete und dabei die Wildschweinborsten hart und schmerzhaft über Claires Kopfhaut zog.
Das machte Claire immer wütend. »Das ist doch genauso wie deins«, protestierte sie dann, aber darauf ging Mama gar nicht ein. Sie bürstete nur noch härter, pikste Claire in die Ohren und zog an den empfindlichen Stellen. »Wir stecken es am besten hoch«, murmelte sie, den Mund voller Haarnadeln. »Dann kann der Teufel nicht danach greifen.«
Gegen diese Logik kam Claire nicht an. Noch vor der Pubertät wusste sie bereits, dass der Leibhaftige offensichtlich ein Auge auf die Gilly-Damen geworfen hatte, die seine Sympathie, Gott sei ihnen gnädig, zu erwidern schienen. Und deshalb, so hieß es in der Stadt, seien sie auch nicht für die Ehe gemacht. Denn wer wollte schon eine Frau, deren Finger bereits ein Ring aus Schwefel zierte?
»Heiraten ist nichts für uns Gilly-Frauen«, murmelte ihre Mutter immer, wenn Claire nach ihrem Vater fragte.
»Das mag vielleicht für Jo zutreffen, muss doch aber nicht unbedingt für mich gelten«, überlegte Claire an dem Tag, als ihre Mutter sie für die Firmung fertig machte. Sie reichte Mama ein weißes Band, das diese ihr ins Haar flocht. Sie hatte gerade erst damit angefangen, es wachsen zu lassen, und die Spitzen berührten kaum ihre Schultern. Jo war zwanzig, sieben Jahre älter als Claire,
Weitere Kostenlose Bücher