Das Geheimnis der Salzschwestern
Miene berührte Claire das Nest aus Locken und Haarnadeln, zu dem ihre Mutter ihr die Mähne im Nacken zusammengesteckt hatte. Er trat einen Schritt näher. »Du siehst richtig gefährlich aus«, flüsterte er, und sie errötete.
Jo sah sich nach Claire um, weil sie wissen wollte, was sie so aufhielt. Als sie Whit entdeckte, blieb sie wie angewurzelt stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Claire seufzte. »Ich muss los«, sagte sie schließlich. In Gedanken war sie schon beim Feuer und den raschelnden Blättern des Birnbaums. »Schön, dich zu sehen«, rief sie in die Dunkelheit und versuchte, Whits Blick zu ignorieren, den sie noch immer im Nacken spürte. Sie freute sich über die Bestätigung, dass sie gut aussah, es wäre ihr aber lieber gewesen, wenn sie von Ethan gekommen wäre.
»Was ist denn in dich gefahren?«, fauchte Jo, als sie bei ihr ankam, und zwickte sie durch die dicke Jacke in den Ellbogen. Dann sprach sie leiser, so dass ihre Mutter sie nicht hören konnte. »Was wollte der überhaupt?«
»Nichts«, antwortete Claire. »Er hat nur hallo gesagt.«
Jo kniff finster die Augen zusammen. »Halt dich bloß von ihm fern. Nur weil er neuerdings die Angelegenheiten seiner Familie übernimmt, heißt das noch lange nicht, dass ich jetzt bei seinem Anblick dahinschmelzen werde. Und das solltest du auch nicht.«
»Das hatte ich auch nicht vor«, erwiderte Claire, Jo hörte sie aber gar nicht. Sie war bereits zum Feuer hinübermarschiert, das gerade entzündet worden war und nun zum Leben erwachte. Claire lief mit ihrem Päckchen Salz hinterher. Vielleicht hatte Jo ja recht, überlegte sie. Jeder wusste, dass die Turners von Räuberbaronen abstammten. Und vielleicht war Whit ja von allen der Schlimmste. Denn hinter all den Grübchen und dem Gezwinker verbarg sich bei ihm unendliche Gier, wie bei diesen altmodischen Bösewichten in Schwarzweißfilmen, die mit weitem Mantel und schmalem Schnurrbart so schneidig aussahen, aber ganz fürchterliche Pläne schmiedeten. Claire drückte die Schultern durch und folgte Jo wortlos zum knisternden Feuer. Was scherten sie schon diese albernen Turners? Sie hatte größere Pläne für heute Abend – tatsächlich sogar für ihr ganzes Leben. Zum ersten und einzigen Mal konnte sie es gar nicht erwarten, vorzutreten und das Salz ins Feuer zu werfen.
Im nächsten Frühjahr schwang Claire in der Marsch voller Elan die Schaufel, hob die Entwässerungsrinnen aus und klagte nicht einmal, als sich an ihren Händen so schlimme Blasen bildeten, dass sie blutig aufplatzten. Denn Ethan würde später den Schmerz wegküssen, und von da an würde sie dann übernehmen. Die Liebe, begriff sie nun, konnte sogar das Salz versüßen.
Allerdings ging Ethan mit ihr nicht sehr weit. Sie schob oft die Hände unter sein T-Shirt, und das ließ er zu. Er protestierte auch nicht, wenn sie ihn am Hals küsste. Aber sobald sie sich anschickte, seinen Gürtel zu lösen, hielt er ihre Handgelenke fest. »Hör auf«, bat er dann und ließ die Arme sinken, »sonst kann ich mich nicht mehr beherrschen, und ich wünsche mir für uns einfach etwas anderes.«
»Was wünschst du dir denn?«, fragte sie schließlich lächelnd. Es war Ende März. Sie waren jetzt schon seit vier Monaten ein Paar, und Claire fühlte sich wie ein völlig neuer Mensch. Als Erstes hatte Ethan sie dazu gebracht, mit dem Rauchen aufzuhören.
»Danach stinken nämlich deine Haare«, hatte er sich beschwert und ihre roten Locken gelöst, »und deine Finger werden gelb. Und wie oft hast du dich schon aus Versehen ver brannt?«
Claire biss sich auf die Lippe. »Aber du rauchst doch auch.«
Er lehnte sich vor und küsste sie. »Aber bloß in der Fischsaison. Ich mache das nur für meinen Vater, das gehört nämlich zu den Anforderungen an echte Kerle. Versprich mir, dass du aufhörst.«
Sie dachte, dass sie das Knistern des Tabaks vermissen würde, aber sie lernte, dass die hinausgezögerte Befriedigung viel köstlicher war als das Laster selbst. Wenn sie sich mit dem Daumen über die leere Unterlippe fuhr und sich vorstellte, wie Ethans voller Mund den ihren berührte, dann verflog der Wunsch nach einer Zigarette und wurde von fleischlicherem Verlangen verdrängt.
Ethan las gerne Gedichte, vor allem die Romantiker: Keats, Wordsworth und Coleridge. Er hatte ein unglaubliches Gedächtnis und konnte ganze Absätze auswendig rezitieren, so mühelos, als zähle er die Namen seiner Verwandten auf. Wenn Ethan im Hafen
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