Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Salzschwestern

Das Geheimnis der Salzschwestern

Titel: Das Geheimnis der Salzschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tiffany Baker
Vom Netzwerk:
ganz langsam an. Das ist einfach besser.« Jo fragte sich, ob er vielleicht deshalb nachts arbeitete, weil er gern im Dunkeln blieb.
    Als die Schwestern ihr drei Monate später die Verbände und Masken abnahmen und sie einen Spiegel in die Finger bekam, verstand Jo auch, warum plötzlich jeder meinte, ihr gute Ratschläge erteilen zu müssen. Ihr Gesicht war zu einem fleischgewordenen Gegensatz zusammengeschmolzen. Rechts waren ihre Züge zerfetzt und verbrannt, links perfekt erhalten, als ob ihr ganzes Selbst in einem einzigen brennenden Moment zum Stillstand gekommen wäre. Die Leute wussten nie, welche Hälfte sie ansehen sollten, wenn sie mit ihr sprachen, und dabei konnte Jo ihnen auch nicht helfen, denn sie wusste ja selbst noch nicht so recht, mit welcher Seite sie sich nun der Welt präsentieren wollte.
    Man verpasste ihr ein Glasauge, das sie aus seiner Höhle nehmen und wie ein Ei in der Hand hin und her rollen konnte, wenn sie wollte. »Sie werden Strategien entwickeln müssen, um den Sehverlust auszugleichen«, zwitscherte Dr. Wynn, ihr beleibter Augenarzt, mit seinem britischen Akzent, den sie manchmal furchtbar nervig, manchmal aber auch tröstlich fand. »Das Autofahren wird Sie vor einige Probleme stellen. Und bei Treppen und unebenem Gelände sollten Sie erst einmal Vorsicht walten lassen, ich denke aber, dass Sie sich ganz gut schlagen werden. Was machen Sie denn beruflich?«
    Jo schob die Stirn gegen das Metallband der komplizierten Maschine vor ihr und legte das Kinn auf dem Schaumpolster ab. Sie versuchte dabei, nicht an das Bild von hintereinander aufgereihten Kühen im Schlachthof zu denken. »Salz«, murmelte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Sie vermisste das Knirschen der grauen Körnchen dazwischen. Das Krankenhausessen war ziemlich fad. »Meine Familie gewinnt Salz und verkauft es.« Dr. Wynn drehte an einem Rädchen, und nun schien eine Miniatursonne in Jos verbleibendes Auge zu leuchten. Es fiel ihr schwer, nicht zu blinzeln.
    »Ach, tatsächlich? Wie faszinierend. Haben Sie schon mal einen Fisch in Salzkruste gebacken?« Als Jo keine Antwort gab, plapperte er einfach weiter, während er auf seiner Seite der Untersuchungsmaschine neue Knöpfe und Rädchen einstellte. »Dafür nehmen Sie einen ganzen Fisch«, trällerte er, »bedecken ihn mit einer Mischung aus Salz und Eiweiß und schieben ihn dann für ein paar Stunden in den Ofen.« Er stellte das Licht aus, das Jo geblendet hatte. »Das klingt jetzt furchtbar, ist aber absolut köstlich. Probieren Sie es mal aus!«
    Jo blinzelte. Das Augenlid legte sich um das Glas wie eine Zunge, die an einem Zahn entlangfuhr. Dieses Gefühl war für sie immer noch ein kleiner Schock. Die Prothese war das einzig Glatte auf dieser Seite ihres Körpers. Jo spürte, wie ihr richtiges Auge schwerer wurde, und fragte sich, ob sie von nun an nur noch halb so viel weinen würde, oder ob ihr Körper all die Trauer jetzt einfach der verbleibenden Tränendrüse überlassen würde. Es erschien ihr ungerecht, einem einzigen Ventil doppelt so viele Sorgen aufzubürden, es würde sie aber nicht überraschen, wenn dem von jetzt an so wäre.
    »Hier.« Dr. Wynn wirbelte auf seinem Metallhocker herum und reichte ihr ein Rezept für Augentropfen. Jo wurde plötzlich klar, dass er noch gar nicht so alt war, wie seine Sprache ihn klingen ließ. Aus einem gewissen Blickwinkel sah er nicht einmal schlecht aus, wenn er auch langsam kahl wurde und ein Bäuchlein bekam. Aber das glich sein sanfter Blick wieder aus.
    »Wie geht Ihre Familie mit dem Ganzen um?«, fragte er, doch Jo gab keine Antwort. Mama war ihr Fels in der Brandung gewesen, aber Claire hatte nur drei Mal vorbeigeschaut – bei ihrer ersten Stippvisite hatte sie sich geweigert, Körpergewebe zu spenden, und das zweite Mal war sie gekommen, als Jo ihre erste Gesichts- OP hatte. Ihren dritten Besuch hatte Jo einem schweren Fieberschub zu verdanken. Ihre Körpertemperatur war derart angestiegen, dass Teufel an der Decke hätten tanzen können, und sie sie dennoch für heilig gehalten hätte.
    »Claire mag keine Krankenhäuser«, hatte Mama das Verhalten ihrer Schwester zu rechtfertigen versucht. »Das ist ja nichts Neues. Und sie ist schließlich noch so jung. Und du weißt ja, wie Teenager sind – immer mit sich selbst beschäftigt.«
    Nein , hätte Jo am liebsten entgegnet, ich habe keine Ahnung, wie Teenager so sind. Ich hatte nämlich nie die Gelegenheit, einer zu sein.
    Dr. Wynns Stimme

Weitere Kostenlose Bücher