Das Geheimnis der Salzschwestern
unterbrach ihren Gedankengang. »Die hier müssen Sie während der ersten Wochen nehmen, bis alles völlig verheilt ist. Die Dosierung steht ganz oben.« Er deutete mit plumpem Zeigefinger auf eine Zeile unlesbaren Fliegendrecks, den Jo zu entziffern vorgab.
Sie streckte die Hand aus und nahm das Papier an sich. »Danke.«
Jetzt war das Aufstehen an der Reihe, das bei ihr immer noch schrittweise vor sich ging: Zunächst berührten ihre abgestumpften Fußsohlen den Boden, dann kamen wackelig Knie, Hüften und Schultern hinzu und schließlich der Kopf. Nichts passte mehr so zusammen wie früher.
Dr. Wynn räusperte sich. »Also, passen Sie mir gut auf das Auge auf«, gab er ihr mit auf den Weg, und Jo fragte sich, ob er wohl das echte oder das falsche meinte. »Rufen Sie an, wenn es Probleme gibt, und denken Sie immer daran, wer sich kopfüber in etwas hineinstürzt, kann leicht auf die Nase fallen.«
Er schloss die Tür seiner Praxis, und sie stand nun allein vor der Aufgabe, sich langsam und tastend zur Krankenschwester zurückzuschieben. Dabei fragte sie sich, ob man wohl immer noch von »hineinstürzen« sprechen konnte, wenn die Füße dabei niemals vom Boden abhoben.
Am nächsten Morgen fuhr Mama sie heim. Als sie sich dem langen Sandweg näherten, hielt sie kurz an, um die Fenster herunterzukurbeln. Die kalten Tage würden nun bald vorbei sein, und die kühle Luft spielte mit den Strähnen, die von Jos Haar noch übrig waren. Sie hatte den Herbst und den Großteil des Winters verpasst. Zwei Jahreszeiten waren vorbeigezogen.
»So ist es besser«, fand Mama. Jo fiel auf, wie dünn sie in den letzten Monaten geworden war. Die Sorge um Jos Gesundheit und die zermürbende Last der Arztrechnungen forderten ihren Tribut, aber ihre Mutter saß immer noch kerzengerade da wie ein Feldwebel und hielt am Lenkrad die Zehn-vor-zwei-Stellung perfekt ein. »Eine gesunde, salzige Brise«, sagte sie. »Endlich mal was anderes als diese Krankenhausluft. Etwas ganz anderes.«
Selbst mit nur einem Auge konnte Jo erkennen, dass sich auf der Salt Creek Farm nichts verändert hatte – nur die Jahreszeit. Dann bogen sie um die letzte Ecke, und Jo erspähte die schwarze Narbe an der Stelle, wo früher die Scheune gestanden hatte. Vor dem Unfall war sie bereits das reinste Skelett gewesen, jetzt hingegen war lediglich andeutungsweise ein Gebäuderest zu erkennen. Ein einziger verkohlter Balken stand noch und reckte sich wie ein knochiger Mittelfinger in die Luft. »Und das Salz?«, fragte sie.
Mama kniff die Lippen zusammen und trat aufs Gas. »Das ist dahin. Aber da, wo es herkam, gibt’s noch mehr davon.«
Dagegen konnte Jo nichts einwenden, und sie berührte die neue Geografie ihres Gesichtes. Die Nerven, die nicht abgestorben waren, rebellierten mit voller Kraft. Sie kreischten beim Kontakt mit ihren Fingern auf, Jo biss jedoch die Zähne zusammen und atmete tief und gleichmäßig ein. Sie wusste, welche Mühe Mama sich gab, und wollte ihr diesen Augenblick auch nicht verderben, konnte sich aber dennoch die eine Frage nicht verkneifen, die ihren Schmerz wohl nur noch verstärken würde. »Wo ist Claire?«, erkundigte sie sich.
Mamas Stimme verriet keinerlei Emotionen. »Bei einem Stenografiekurs in Hyannis. Sie kommt später nach Hause.«
Jo wandte sich wieder zu der Landschaft um, die sie so gut kannte. Hier kehrte sie nun endlich heim, und ihre Schwester suchte immer noch nach einem Weg, dem allem zu entkommen. Es hatte sich eben nichts geändert.
Wie immer hörte Jo Claire bereits, bevor sie sie sah. Ihre Schwester stürmte meistens ins Haus, als würde ein kalter Windstoß hereinfegen, voller Wut und Ungeduld. Jo bekam mit, wie sie ihre Bücher auf das alte Klavier im Flur knallte, wie eines davon gegen die krummen Tasten schlug, dann war das Plumpsen der Schuhe auf dem bloßen Fußboden zu vernehmen, als Claire sie von den Füßen schleuderte. Jo spähte mit ihrem guten Auge hinter der Küchentür hervor und beobachtete Claire, die kurz innehielt und ihren wilden Schopf in einen unordentlichen Pferdeschwanz zwang. So wie sie dastand, unbeweglich und mit erhobenen Armen, sah sie aus wie eine halbfertige Vogelscheuche. Claire schaute auf, entdeckte ihre Schwester und erstarrte. Instinktiv hätte sich Jo am liebsten wieder hinter der Tür versteckt, aber sie unterdrückte diesen Drang und trat hinaus in den Flur. Das rechte Bein zog sie beim Gehen immer noch ein wenig nach. Und nun betrachtete sie Claire, die sie zum
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