Das Geheimnis der Salzschwestern
nicht heute zu entscheiden, aber wir müssen es bald wissen. Das könnte die Lage Ihrer Schwester maßgeblich verbessern.«
Wieder herrschte im Zimmer Stille, aber diesmal war es eine drückende Stille, so, als würde einem Schlafenden ein Kissen aufs Gesicht gepresst. Schließlich hörte Jo, wie ihre Mutter die Ärztin in eine Ecke des Raumes zog und sie miteinander flüsterten. So viele Tage blind dazuliegen, hatte Jo inzwischen daran gewöhnt, auch die leisesten Geräusche wahrzunehmen. Durch den Nebel der Medikamente versuchte sie, die gedämpften Worte ihrer Mutter zu verstehen. Nordoststurm. Zwei, nicht nur eins. Unsere Liebe Frau. Sie hörte auf zu lauschen. Diese Geschichte kannte sie bereits.
»Verstehe«, hörte Jo die Ärztin sagen. Nun kannte Dr. Meyer das Geheimnis auch. Jo bewegte die geschwollene Zunge im Mund und versuchte, ihrer Kehle einen Laut zu entlocken, brachte jedoch nur ein Stöhnen zustande.
»Joanna?« Dr. Meyers Kleidung raschelte, als sie näher kam und sich über das Bett beugte, die Geräte überprüfte und ihre Krankenakte aufschlug. Jo stöhnte wieder und versuchte, den Kopf zu bewegen, die Bienen in ihrem Hirn flogen nun jedoch über ihre Haut und stachen so giftig zu, dass sie keuchte.
»Ruhig liegenbleiben«, befahl die Ärztin und klingelte nach einer Schwester.
Jo hörte, wie Claire auf der anderen Seite an sie herantrat. Die Spitzen ihrer langen roten Locken streiften die Bettdecke. Selbst ohne Hilfe des Augenlichts sah Jo Claires Gesicht ganz genau vor sich, so milchig und weich. Vermutlich hatte ihr das Feuer nicht ein Haar gekrümmt. Dafür hatte sie selbst ja gesorgt. Aber natürlich leckte Claire sich die eigenen Wunden.
»Sie hat nicht ein einziges Mal mit Ethan gesprochen«, hatte Mama während einer der langen Stunden erzählt, die sie an Jos Bett wachte. »Sie weigert sich, ihn zu sehen, dabei muss er in ein paar Tagen schon los. Eigentlich spricht sie mit so gut wie niemandem.«
Jetzt aber machte Claire doch den Mund auf. »Ich hab Whit für dich angerufen«, flüsterte sie Jo ins Ohr. Sogar jetzt konnte man in ihrem Atem eine Spur von Zigarettenrauch erahnen. »Ich dachte, das würdest du sicher wollen. Er …« Sie zögerte, und Jo nahm in ihrer Stimme einen Anflug von Eifersucht wahr, den sie noch nie zuvor bemerkt hatte. »Er schickt dir ganz liebe Grüße. Er hat mir gesagt, die soll ich dir ausrichten. Und das tue ich hiermit.« Claire lehnte sich weiter vor, gab gut acht, nur Jos linke Körperhälfte zu berühren, und drückte ihr mit nach Kirschen duftenden Lippen einen kleinen Kuss auf die Wange. Jo fragte sich, ob ihre Schwester sich wohl aus Vorsicht oder Kalkül ihre gute Seite ausgesucht hatte, diejenige, die noch wehtun konnte. Als Nächstes hörte sie Claire auf dem Gang davontrippeln wie Regen, der von einem Dach tropfte, und begann dann, über all die Dinge nachzudenken, die sie nicht gesagt hatte. »Vergib mir«, zum Beispiel, oder »Danke«, oder »Ich hab dich lieb«. Ihre Schritte verhallten, und Jo lag dort in ihrem Kokon aus verkohlter Haut und fragte sich, wie sie eigentlich jemanden nennen sollte, der zwar zu ihrer Familie gehörte, aber auch die bessere Hälfte ihres Fleisches war, der Teil, der sich frei bewegen und all die Wege beschreiten konnte, die Jo nun niemals einschlagen würde.
Anfangs machten sich die Mitarbeiter des Krankenhauses große Sorgen um Jos Geisteszustand. Man fragte sie immer wieder, in welchem Jahr sie sich befanden und ob sie ihnen den Namen des Präsidenten nennen konnte. »Lyndon B. Johnson«, krächzte sie dann und hätte am liebsten hinzugefügt, dass er wie ein verschrumpelter Apfel aussah und auch in etwa dessen Persönlichkeit hatte, dazu hatte sie aber keine Kraft mehr. Ihre Stimmbänder schmerzten schon allein vom Atmen.
Und vor allem warnten Ärzte und Krankenschwestern sie immer wieder vor der Zukunft. »Ihr Leben wird nicht mehr so sein wie vorher«, verkündete Dr. Meyer trocken, während sie gleichzeitig durch Diagramme blätterte und sich Notizen machte. »Zumindest nicht am Anfang. Aber nach einiger Zeit werden Sie wieder ganz die Alte sein.«
»Neue Haut für eine neue Seele«, gackerte Bea, ihre Lieblingskrankenschwester. »Das ist jetzt Ihre Chance, genau das zu werden, was Sie immer schon sein wollten, Liebes. Machen Sie was draus!«
»Nehmen Sie sich am besten immer einen Tag nach dem anderen vor.« Dieser Rat stammte von Raymond, dem Krankenpfleger von der Nachtschicht. »Gehen Sie’s
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