Das Geheimnis Der Schönen Toten
ich«, sagte Hugh und setzte sich so hin, daß er den jungen Mann in dem durch das Fenster einfallenden Licht deutlich sehen konnte. Es war kurz nach zwölf Uhr mittags und die hellste Stunde eines wolkenverhangenen Tages. »Es war richtig von Euch, mich gleich kommen zu lassen. Denn ich nehme an, daß es mit dieser toten Frau zu tun hat. Mehr hat Cadfael mir nicht gesagt. Ich höre, Sulien. Was habt Ihr zu sagen?«
Sulien erzählte seine Geschichte erneut, diesmal etwas kürzer als zuvor, doch mit weitgehend den gleichen Worten, soweit es die Tatsachen betraf. Es gab keine Diskrepanzen, aber sein Vortrag war auch nicht so formuliert, als wäre er einstudiert. Sulien hatte eine liebenswürdige, frisehe Art, und die Worte kamen ihm leicht über die Lippen.
Als er geendet hatte, lehnte er sich mit einem scharfen Seufzen zurück und sagte: »Es kann also keinen Verdacht mehr gegen Bruder Ruald geben. Wann hatte er denn je etwas mit einer anderen Frau zu tun als mit Generys? Und Generys lebt und ist wohlauf. Wer immer es ist, die Ihr gefunden habt, sie kann es nicht sein.«
Hugh hatte den Ring auf der Handfläche, und die eingravierten Initialen waren im Lichtschein deutlich zu sehen. Er betrachtete ihn nachdenklich und mit gerunzelter Stirn.
»Euer Abt hat Euch nahegelegt, bei diesem Silberschmied Nachtquartier zu nehmen?«
»So ist es. Er war als guter Freund der Benediktiner von Ramsey bekannt.«
»Und sein Name? Und wo liegt seine Werkstatt in der Stadt?«
»Sein Name ist John Hinde, und die Werkstatt ist in Priestgate, nicht weit von der Klosterkirche entfernt.« Die Antworten kamen zügig, ja sogar bereitwillig.
»Nun, Sulien, wie es scheint, habt Ihr Ruald alle Sorgen mit diesem Rätsel und diesem Todesfall genommen und mich eines Verdächtigen beraubt, falls dieser Mann wirklich je ernstlich in Verdacht stand. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich ihn nie so recht im Verdacht gehabt, der Täter zu sein, aber Männer sind Männer - selbst Mönche sind es -, und unter uns sind nur wenige, die nicht töten könnten, wenn die Gelegenheit da ist, das Bedürfnis, der Zorn und die nötige Abgeschiedenheit. Es war möglich!
Ich bedaure aber nicht, den Verdacht zerstreut zu sehen.
Wie es scheint, müssen wir anderswo nach einer verschwundenen Frau Ausschau halten. Hat Ruald schon davon erfahren?« fragte er und blickte zu dem Abt hoch.
»Noch nicht.«
»Dann laßt ihn jetzt kommen«, sagte Hugh.
»Bruder«, sagte der Abt zu Cadfael gewandt, »sei so gut und suche Ruald und bitte ihn herzukommen.«
Cadfael machte sich nachdenklich auf den Weg. Für Hugh bedeutete diese Rettung Rualds einen Rückschlag. Er mußte wieder von vorn beginnen und wurde damit von den Angelegenheiten des Königs abgelenkt, und das zu einer Zeit, in der es ihm lieber gewesen wäre, sich darauf konzentrieren zu können. Er hatte ohne Zweifel auch nach einer anderen denkbaren Identität der toten Frau gesucht, aber es ließ sich nicht leugnen, daß die verschwundene Generys die einleuchtendste Möglichkeit war. Doch angesichts dieser unerwarteten Wendung konnte zumindest die Abtei von Saint Peter und Saint Paul um so ruhiger in die Zukunft blicken. Was Ruald selber anging, würde er sich um der Frau willen mehr freuen als um seiner selbst willen und für die unerwartete Fügung dankbar sein. Sein so allumfassender, entrückter Seelenfrieden, der dem, was die meisten fehlbaren menschlichen Brüder erreichen konnten, so weit voraus war, war ohnehin ein ständiges, staunenswertes Wunder. Für ihn war alles wohlgetan, was immer Gott entschied oder tat, ob für ihn oder an ihm, selbst wenn es Kummer und Demütigung bedeutete, ja selbst den Tod.
Auch das eigene Märtyrertum hätte daran nichts geändert.
Cadfael fand ihn in der Krypta des Refektoriums, wo Bruder Matthew, der Kellermeister, seine geräumigsten Lagerräume hatte. Man hatte ihm Ruald zugeteilt, da dieser ein praktisch veranlagter Mann war, dessen Fähigkeiten eher handwerklicher Art waren als gelehrter oder künstlerischer Natur. Als er ins Zimmer des Abts befohlen wurde, wischte er sich die Hände ab, ließ seine Inventarliste im Stich, berichtete Bruder Matthew in dessen kleinem Zimmer des südlichen Gewölbes über seinen Gang zum Bruder Abt und folgte Cadfael mit schlichtem Gehorsam, der nichts in Frage stellte. Es stand ihm nicht zu, Fragen zu stellen oder sich zu wundern, obwohl, wie Cadfael überlegte, ihm unter den jetzigen Umständen sehr wohl der Mut ein wenig sinken
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