Das Geheimnis der Schwestern
Miststücke«, sagte Winona grinsend. »Höchstens, weil ihr billige Arbeitskräfte seid.«
Aurora musterte den Stand und runzelte die Stirn. Mit ihren modischen Designerjeans, den hochhackigen Sandaletten und der taillierten weißen Bluse wirkte sie eher wie eine Prominente und nicht wie die Exfrau eines Kleinstadtarztes. »Ich fasse es nicht, dass du um deine Fahne Ausdrucke der amerikanischen Flagge geklebt hast. Rechteckige Formen sind unvorteilhaft für Frauen, das weiß doch jeder. Und dein Slogan: Wählt Grey. Du hast sieben Jahre studiert, und etwas Besseres fällt dir nicht ein?« Sie wandte sich zu Vivi Ann. »Zum Glück muss man als Politiker nicht originell sein.«
»Aber dir wäre natürlich was Besseres eingefallen«, spöttelte Winona.
Aurora dachte demonstrativ nach. Sie zog ihre Stirn in Falten und tippte sich mit dem langen, lackierten Fingernagel des Zeigefingers gegen die Wange. »Hmm … wirklich ganz schön schwierig, wo du doch ›Win‹ heißt. Was könnte man daraus bloß machen?«
Winona brach in Gelächter aus, sie konnte nicht anders. »Wieso bin ich nicht darauf gekommen?«
»Du hast schon immer den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen«, erwiderte Aurora. »Erinnerst du dich noch an deine erste Fahrprüfung? Du warst so damit beschäftigt, auf das Stoppschild in der Ferne zu achten und dir auszurechnen, wann du bei deiner Geschwindigkeit anfangen müsstest zu bremsen und den Blinker zu setzen, dass du einfach über eine Kreuzung gefahren bist!«
Das war der Nachteil an Verwandten. Sie waren wie Elefanten, die nie etwas vergaßen. Vor allem keine Fehler, und ein lustiger Fehler war so haltbar und vielfältig verwendbar wie Plastik.
Sie wollte gerade anbieten, allen einen Kaffee zu spendieren, als sie bemerkte, dass Noah ihre Handtasche durchwühlte. »Noah«, zischte sie. »Was machst du da?«
Eigentlich hätte er schuldbewusst dreinblicken müssen, aber so war Noah: Er verhielt sich nie, wie man es erwartete. Stattdessen wirkte er wütend. »Ich brauche einen Stift für meine Hausaufgaben.«
Das wüsste ich , dachte Winona, doch laut sagte sie: »Dein Eifer ehrt dich.« Sie griff nach einem Stift vom Tisch, gab ihn ihm und nahm ihre Tasche an sich.
Die nächsten acht Stunden verteilten sie und ihre Schwestern Broschüren, Buttons und Süßigkeiten. Gegen drei Uhr nachmittags verschwand Aurora für eine halbe Stunde und kehrte mit großen Margaritas in Plastikbechern zurück. Von da an wurde es sehr lustig. Winona wusste nicht genau, wessen Idee es war, doch als das gesamte Werbematerial verteilt worden war und die anderen Stände für den Tag geschlossen wurden, nahmen sie drei mitten auf der Straße Aufstellung, schwangen im Gleichtakt die Beine und sangen: »Can Can Can: Kann man stimmen für Win?«
Danach gingen sie lachend zum Stand zurück, wo Noah wie eine kleine dunkle Regenwolke auf sie wartete.
»Geht’s noch durchgeknallter?«, fragte er Vivi Ann, der sofort das Lachen verging.
Das ärgerte Winona. Was ihre Schwester nun gar nicht gebrauchen konnte, war ein schlechtgelauntes und schlecht erzogenes Kind, das ihre Gefühle verletzte. »Das Gleiche könnte man dich fragen«, sagte sie zu ihm.
»Will jemand noch was trinken?«, fragte Aurora rasch. »Alle? Gut. Komm, Noah. Du kannst mir beim Tragen helfen. Das ist auch eine gute Übung für das letzte Highschooljahr.«
Nachdem sie verschwunden waren, ging Winona zu Vivi Ann, die am Ständer der Fahne stand und auf die belebte Straße blickte. Mitten durch die dichte Menge der Besucher hindurch. Winona wusste, wohin ihre Schwester blickte. Auf die Ecke, wo die Eisdiele und die Einmündung der Gasse zu sehen waren.
Cat Morgans Haus war natürlich längst nicht mehr da; jetzt führte die saubere, gepflegte Gasse zu einem Park, der vom Kiwani’s Club angelegt worden war. Aber ganz gleich, wie viele Straßenschilder oder Zeitungsanzeigen auf die Namensänderung hinwiesen: Für die Einheimischen würde es für immer Cats Gasse bleiben.
»Alles in Ordnung?«, fragte Winona behutsam.
Vivi Ann schenkte ihr das Teflon-Lächeln, das sie in den letzten Jahren perfektioniert hatte. »Natürlich. Wieso?«
»Ich hab gehört, dass Noah wieder in eine Prügelei geraten ist.«
»Er sagt, Erik Junior und Brian hätten angefangen.«
»Wahrscheinlich stimmt das auch. Butchies Junge war schon immer ein kleiner Tyrann. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«
»Die ersten Male habe ich noch den Zweifel für den Angeklagten
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