Das Geheimnis der Schwestern
einem Freund, der ihn unterstützte. Ihr brach es das Herz, dass sie nicht diese Rolle für ihn übernehmen konnte. Früher hatte sie gedacht, sie würden für immer die besten Freunde sein; aber diese naive Vorstellung hatte sie aufgeben müssen. Er war ein Junge ohne Vater; daher brauchte er eine Mutter, die die Regeln bestimmte und durchsetzte. »Jedes Mal wenn du dich mit jemandem prügelst, gibst du ihnen recht.«
»Und wenn schon! Vielleicht bin ich ja wirklich wie mein Alter.« Er schleuderte den Controller gegen die Wand. »Ich hasse diese Scheißstadt.«
»Noah.«
»Und ich hasse dich, weil du ihn geheiratet hast. Ich hasse ihn, weil er nicht hier ist …« Ihm brach die Stimme. Er stand auf und rückte schnell vom Bett ab.
Sie ging zu ihm und wollte ihn wie früher in den Arm nehmen, aber er schob sie weg. Sie starrte auf seinen Rücken, sah, wie zusammengesunken seine Schultern waren, und wusste, wie sehr ihn die hässlichen Bemerkungen auf dem Schulhof verletzt hatten.
»Ich weiß, wie du dich fühlst, glaub mir.«
Er drehte sich um. »Ach ja? Du weißt also, wie es ist, einen Mörder zum Vater zu haben?«
»Ich hatte einen zum Mann«, sagte sie leise.
»Lass mich allein.«
Wieder holte Vivi Ann tief Luft. Sie hatten schon vorher einige Male um den heißen Brei herumgeredet. Sie wusste nie, was sie über Dallas sagen sollte. »Bevor ich gehe, muss ich dir noch die gute Nachricht verkündigen, dass du Literatur nicht bestehen wirst. Das heißt, im September gehst du nicht auf die Highschool.«
Jetzt merkte er auf. »Was?«
»Glücklicherweise ist Mrs Ivers bereit, dir noch eine Chance zu geben. Du darfst in diesem Sommer ein Tagebuch für sie anlegen. Montagmorgen trefft ihr euch vor der Schule und besprecht die Einzelheiten.«
»Ich hasse schreiben.«
»Na, dann viel Spaß bei der zweiten Runde in der Achten.«
Dann ging sie, damit er darüber nachdenken konnte.
Wer bin ich?
Nur eine vollkommen irre Alte wie Mrs Ivers kann einem eine derart bescheuerte Aufgabe aufbrummen. Sie glaubt, es macht mir was aus, wenn ich in Literatur durchfalle. Als würde ich das brauchen, wenn ich mit der Schule fertig bin. Also: zum Teufel mit ihr und ihrer letzten Chance. Ich mach’s auf gar keinen Fall.
Ich bin vom Unterricht ausgeschlossen worden. Scheiße!
Wer bin ich?
Wieso glaubt Mrs I., das wäre so wichtig? Ich bin niemand. Das werde ich ihr schreiben. Ach nein, ich muss es ihr nicht schreiben, weil sie mein PRIVATZEUG NICHT LESEN WIRD . Als würde ich ihr abnehmen, dass sie es nur überfliegt, um zu sehen, ob ich nicht von anderen abschreibe. Ja, klar! Glaub ich unbesehen.
Ich sollte es ihr sagen. Vor den Latz knallen. ICH WEISS NICHT, WER ICH BIN .
Woher auch?
Ich ähnele niemandem in meiner Familie. Alle behaupten, ich hätte die Augen meiner Mutter, aber sollte ich jemals so traurig aussehen, kann ich auch gleich Schluss machen.
So lautet meine Antwort, Mrs I. Ich weiß nicht, wer ich bin, aber es ist mir egal. Was schert es mich? Es schert doch keinen in der ganzen Stadt. Meine Mittagspausen muss ich allein verbringen, am Versagertisch. Mit mir spricht sowieso keiner. Wenn ich an ihnen vorbeigehe, lachen sie nur und erzählen sich Scheiß über meinen Vater.
Neunzehn
Winonas Leben war ein Paradebeispiel dafür, dass man Erfolg haben konnte, wenn man eine gute Ausbildung bekam, hart arbeitete und nicht den Glauben an sich selbst verlor. Diese ermutigende Wahrheit führte sie – mit einer Geschichte ihrer Triumphe – Jugendgruppen, Schulklassen und jungen Ehrenamtlichen im ganzen Land vor Augen. Sie glaubten ihr – warum auch nicht? Schließlich war ihr Erfolg für alle Welt sichtbar: Sie wohnte in einer prächtigen, restaurierten viktorianischen Villa, fuhr ein brandneues, bar bezahltes eisblaues Mercedes Cabrio und kaufte und verkaufte regelmäßig Grundstücke in der Umgebung. Sie hatte so viele Klienten, dass sie – sofern es sich nicht um einen Notfall handelte – oft bis zu zwei Wochen auf einen Termin warten mussten. Aber das Beste war, dass ihre Nachbarn sich angewöhnt hatten, sie um Rat zu fragen. Im Laufe der Zeit hatte sich erwiesen, dass sie fast immer recht behielt, und es schmeichelte ihr, dass ihre Ruhe und Sachlichkeit bei Entscheidungsprozessen anerkannt und bewundert wurden. Rückblickend betrachtet, hatte selbst die hässliche Angelegenheit mit Dallas ihrem Ruf genutzt. Letzten Endes hatte man es gutgeheißen, dass sie Dallas nicht vertreten hatte, und Vivi
Weitere Kostenlose Bücher