Das Geheimnis der Schwestern
sich nur noch über Alltägliches, und manchmal sahen sie sich nicht mal an; es war, als wäre ein Teil ihres Lebens von einer Eiskruste überzogen und unsichtbar geworden. Aber Vivi Ann hatte die Erfahrung gemacht, dass man nicht immer über etwas sprechen musste, um es zu lösen. Wenn man nur lange und ausdauernd genug so tat, als wäre alles in Ordnung, war es mit der Zeit auch so, zumindest fast.
Auch in der Stadt redete niemand mehr über die Jahre zurückliegenden Ereignisse, zumindest nicht mit Vivi Ann. In stillschweigendem Einvernehmen war man entschlossen, alles zu vergessen.
Unglücklicherweise wurde damit sowohl im Farmhaus als auch in der Stadt auch Noahs Herkunft totgeschwiegen. Zumindest von den Erwachsenen. Ganz offensichtlich beteiligten sich die Kinder nicht an dem Schweigepakt.
»Hey, Dad«, sagte Vivi Ann jetzt, als sie die Veranda hinaufstieg. »Wir brauchen noch Heu. Könntest du bei Circle J anrufen?«
»Ja. Ich hab dem neuen Arbeiter auch gesagt, dass wir noch Phenylbutazon brauchen.«
»Gut.« Sie ging ins Haus, kochte für ihn und die Arbeiter und hielt das Essen im Ofen warm. Die drei Männer konnten in letzter Zeit gar nicht genug bekommen; Vivi Ann kochte zwar im Farmhaus, setzte sich aber nur selten zum Essen dazu. Ihr Leben fand im Cottage statt, mit Noah. Als sie fertiggekocht hatte, kehrte sie auf die Veranda zurück.
Sie wollte schon an ihrem Vater vorbeigehen, da sagte er: »Ich hab gehört, Noah ist heute wieder in eine Prügelei geraten.«
»Ach ja, die Gerüchteküche«, erwiderte sie gereizt. »Hat man dir auch zugetragen, wer angefangen hat?«
Jetzt stand die Vergangenheit deutlich spürbar zwischen ihnen.
»Du weißt doch genau, wer angefangen hat.«
»Das Essen ist im Ofen. Sag Ronny, er soll dieses Mal abspülen.«
»Ja.«
Sie ging quer über den Parkplatz und die Auffahrt (die seit 2003 asphaltiert war) und blieb an der Koppel hinter dem Reitstall stehen. Renegade wieherte, als er sie sah, und hinkte mit seinen geschwollenen, arthritischen Knien mühsam auf sie zu.
»Hey, mein Junge.« Sie rieb ihm über die langsam grau werdenden Nüstern und kratzte ihm die zuckenden Ohren. Plötzlich fragte sie sich: Träumt er immer noch davon, auf Renegade zu reiten?
Sie verdrängte den Gedanken und ging weiter zum Cottage. Renegade folgte ihr auf seiner Seite des Zauns langsam und humpelnd, doch am Fuße des Hügels gab er auf, blieb stehen und sah ihr nach.
Sie achtete darauf, nicht zu ihm zurückzublicken, als sie den restlichen Weg zum Cottage zurücklegte. Als sie die Tür öffnete, war ihr sofort klar, dass Noah schon zu Hause war, denn die Holzwände wurden von laut dröhnender Musik erschüttert. Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Sie hatte weiß Gott gelernt, dass Wut nichts brachte.
Vor seiner Zimmertür hielt sie inne und klopfte. Da sie wegen der Musik keine Antwort hören konnte, öffnete sie die Tür und trat ein.
Sein Zimmer war lang und schmal und erst kürzlich angebaut worden. Die Wände waren mit Postern von verschiedenen Bands bedeckt: Godsmack, Nine Inch Nails, Korn, Metallica. In einer Ecke standen ein Computer und ein Fernseher, an den eine Xbox angeschlossen war.
Vielleicht war das das Problem; sie hatte ihm zu viel erlaubt und zu wenig gefordert. Aber sie versuchte immer noch, seinen Verlust auszugleichen.
Er saß mit dem Rücken zu ihr und einem Controller in den Händen auf seinem ungemachten Bett und ließ eine Bikerbraut einem Typen in die Eier treten.
»Wir müssen reden«, sagte sie zu ihm.
Als er weder antwortete noch den Kopf wandte, ging sie zum Fernseher und schaltete ihn aus.
»Verdammt, Mom! Ich hätte fast das Level geschafft.«
»Du sollst nicht fluchen.«
Er sah sie trotzig an. »Wenn das so schlimm ist, sollten du und deine Schwestern vielleicht ein besseres Vorbild sein.«
»Versuch nicht, den Spieß umzudrehen«, erwiderte sie. »Das läuft diesmal nicht. Worum ging es bei deinem Streit?«
»Ach, lass mal nachdenken. Globale Erwärmung?«
»Noah …«
»Worum soll es schon gegangen sein? Worum es immer geht. Dieser Wichser Engstrom hat mich Indie genannt, und seine Frettchenfreunde haben mit einem Regentanz angefangen. Also hab ich ihm eins auf die Glocke gegeben.«
Vivi Ann setzte sich neben ihn. »Da hätte ich ihm auch eins in sein Pickelgesicht geben wollen.«
Er warf ihr durch seine strähnigen Haare einen Blick zu.
Vivi Ann wusste, dass er sich verzweifelt nach einem Verbündeten sehnte,
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