Das Geheimnis der Schwestern
gelten lassen, aber mittlerweile weiß ich nicht mehr, was ich mit Noah machen soll. Selbst wenn er nicht anfängt, beendet er es immer mit einer Prügelei, und früher oder später wird dabei jemand zu Schaden kommen.«
Winona legte sich sorgfältig ihre Worte zurecht. Von allen Landminen, die in ihrer Vergangenheit vergraben waren, wurde keine leichter ausgelöst als die über Noahs Probleme.
Die Veränderung war im letzten Jahr eingetreten, und zwar fast auf den Tag genau an seinem dreizehnten Geburtstag. Innerhalb eines Sommers war aus dem mageren, freundlichen Labrador ein launischer und bedrohlicher Dobermann geworden. Leicht reizbar, schwer zu versöhnen. Sein aufbrausendes Temperament sorgte im Ort für Gerede. Manche sprachen bereits von Gewalttätigkeit und fügten oft genau wie bei seinem Vater hinzu.
Winona war der Meinung, dass zumindest professionelle Hilfe, wenn nicht gar ein Wechsel auf eine Schule für Schwererziehbare vonnöten war, doch Vivi Ann solche Vorschläge zu unterbreiten war heikel. Vor allem, wenn die Vorschläge von Winona kamen. Sie hatten sich zwar versöhnt, doch ihr Frieden war brüchig. Manche Themen waren einfach tabu. »Es ist doch kein Wunder, dass er Schwierigkeiten hat, mit … bestimmten Sachen umzugehen«, sagte Winona. Wenn möglich, vermied sie es, Dallas zu erwähnen. »Vielleicht braucht er professionelle Hilfe.«
»Das habe ich schon versucht. Er will aber nicht reden.«
»Vielleicht sollte er in einen Sportverein gehen. Das ist gut für ein Kind.«
»Könntest du mit ihm reden? Du weißt doch, wie es war, gehänselt zu werden, oder?«
Winona verspürte Widerstreben. Ehrlich gesagt mochte sie Noah in letzter Zeit nicht mehr. Oder vielleicht war das nicht der richtige Ausdruck.
Sie fürchtete ihn. Ganz gleich, wie oft sie zu sich sagte, dass er nur ein Junge war, der einen Schicksalsschlag erlitten hatte, und dass die Pubertät eben schwierig war, so war sie im Grunde doch nicht davon überzeugt. Wenn sie ihn anblickte, sah sie nur seinen Vater.
Dallas hatte schon einmal fast ihre Familie auseinandergebracht, und sie hatte Angst, dass es seinem zornigen, gewalttätigen Sohn nun gelingen würde.
»Klar«, sagte sie zu Vivi Ann. »Ich rede mit ihm.«
Ich fasse es nicht, dass ich früher den Gründungstag mochte! Es war ein Witz! Als würden mich nicht alle sowieso schon für einen Versager halten, musste ich in Tante Winonas »Wahlkampagnenzentrum« hocken und billige Buttons an alte Leute verteilen.
Als sie mit ihrem dämlichen Affentanz mitten auf der Straße anfingen, hätte ich am liebsten geschrien. Natürlich sind genau da Erik Junior und Candace Delgado vorbeigekommen. Am liebsten hätte ich ihm sein Grinsen aus dem Gesicht geprügelt, und Candace sah aus, als würde ich ihr leidtun.
ICH HASSE ES !
Ich habe es so satt, dass die Leute meinen, sie wüssten etwas über mich, bloß weil mein Dad eine Frau erschossen hat.
Vielleicht hat sie ihn ja auch so angesehen, als wäre er Abschaum. Vielleicht hat er sie deshalb erschossen.
Ich hab versucht, meine Mom danach zu fragen, aber sie sieht dann immer so aus, als würde sie anfangen zu weinen, und sagt, dass das alles jetzt unwichtig ist und nur zählt, wie sehr sie mich liebt.
Falsch.
Sie hat ja keine Ahnung, wie ich mich fühle. Wenn sie es wüsste, würde sie mich zu meinem Vater bringen.
Wenn ich erst mal meinen Führerschein habe, ist das das Erste, was ich tue. Ich werde zum Gefängnis fahren und meinen Vater besuchen.
Ich will nicht mal mit ihm reden. Nur sein Gesicht sehen.
Wahrscheinlich wollen Sie den Grund wissen, stimmt’s nicht, Mrs Ivers? Sie denken, es wäre blöd von mir, einen Mörder besuchen zu wollen, und Sie fragen sich bestimmt, ob ich dafür einen Wagen klauen würde.
Haha.
Sie werden es abwarten müssen.
Im Juni hatte die Jugendgruppe ihr erstes Vortreffen für das alljährliche Stadtfest. Die Mädchen und auch einige ihrer Mütter hatten sich im Cottage eingefunden und saßen auf dem Sofa, auf dem Boden und vor dem Kamin. Der Holzboden war mit großen Bögen Tonkarton bedeckt. Auf jedem Bogen stand ein Gefäß mit Schreibmaterialien: Farbstiften, Linealen, Glitzerstiften, Bastelscheren, Kleber; nach über zwanzig Jahren Erfahrung wusste Vivi Ann genau, was benötigt wurde. Die Welt veränderte sich mit jeder Generation, und Trends kamen und gingen, aber wie Mädchen sich ausdrückten, blieb immer gleich: mit bunten Farben und Glitzerkleber.
Vivi Ann ging im Zimmer herum
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