Das Geheimnis der Schwestern
wollte?«
»Dann würde ich sagen: Gerne, wenn du achtzehn bist.«
»Aber mit Zustimmung der Eltern geht es schon ab sechzehn.«
»Verstehe. Hab ich deinen sechzehnten Geburtstag verpasst?«
»Ich plane nur vorausschauend.«
»Ach wirklich?«
»Wenn ich mir wirklich eins machen lasse, will ich es da haben, wo Dad seins hatte. An welchem Arm war es?«
Vivi Ann sah ihn misstrauisch an. »Du hast doch noch nie vom Tattoo deines Vaters geredet.«
»An welchem Arm war es?«
»Warum willst du das wissen?«
»Siehst du, Tante Winona?« Er marschierte aus dem Wohnzimmer, murmelte dabei etwas über die spanische Inquisition und knallte die Tür zu seinem Zimmer hinter sich zu.
»Was zum Teufel sollte das denn?«, erkundigte sich Vivi Ann.
»Wo war Dallas’ Tätowierung?«, fragte Winona leise.
»Auf seinem linken Oberarm. Wieso?«
»Du spuckst es jetzt besser aus«, sagte Vivi Ann kurz darauf. Die plötzlich einsetzende Stille lastete gefährlich auf ihnen. »Was soll das hier mit Dallas?«
»Eigentlich geht es um Noah. Vor einer Woche kam er zu mir in die Kanzlei und sagte, er wolle mich anheuern.«
»Steckt er in Schwierigkeiten?«
»Das dachte ich auch zuerst. Deshalb habe ich seinen Fall übernommen. Aber …«
»Was, aber?«
»Es stellte sich heraus, dass es um seinen Vater ging.«
Vivi Ann nickte. »In letzter Zeit ist er geradezu besessen davon. Warum wollte er, dass du das mit dem Tattoo herausfindest? Er hätte mich doch direkt fragen können. Oder hat er Angst, mich zu fragen? Ist es das? Ja, nicht wahr? Er denkt, ich wollte ihm nichts über Dallas erzählen.«
»Er möchte, dass ich vor Gericht gehe und einen neuen DNA -Test beantrage. Die Analysemethoden sind mittlerweile wesentlich genauer. Aber wir beide wissen doch, dass Dallas niemals zustimmen würde«, fügte Winona schnell hinzu.
Es war, als würde man einen Stoß vor die Brust bekommen, wenn man am wenigsten damit rechnete. Vivi Ann stand ganz langsam auf. Sie konnte ihre Schwester nicht mal anblicken, weil es sie ihre gesamte Kraft kostete, nicht wegzurennen. »Ich muss mit Noah reden. Du solltest jetzt gehen.«
»Aber du bist mir doch nicht böse, oder?«, fragte Winona und stand ebenfalls auf.
»Nein, natürlich nicht.«
Beide wussten, dass dies eine Lüge war, wenn auch nur eine Notlüge. Ihre Versöhnung war nur möglich gewesen, weil sie stillschweigend übereingekommen waren, dass Dallas nicht zwischen ihnen stand. Aber jetzt war er wieder da und stand so eindeutig zwischen ihnen, als befände er sich tatsächlich im Raum.
Ohne ein weiteres Wort ging Vivi Ann zu Noahs Zimmer. Sie klopfte mehrmals laut an. Da keine Antwort kam, trat sie einfach ein.
Er saß mit angezogenen Beinen auf seinem Bett, hatte die Augen geschlossen und wiegte sich im Takt der Musik aus seinem iPod. Sie konnte die winzigen Kopfhörer zwar nicht sehen, aber das blecherne Echo der zu laut gestellten Musik hören.
Sie ging zu ihm und tippte ihm auf die Schulter.
Er reagierte wie ein erschrecktes Pferd, scheute vor ihrer Hand zurück, doch sie sah an seinem misstrauischen Blick, dass er sie erwartet hatte. Er zog sich die Ohrstöpsel heraus und warf den iPod aufs Bett.
Sie ging zum Fußende seines Betts und nahm ihm gegenüber Platz. »Du hättest damit auch zu mir kommen können, weißt du.«
»Wie denn?«
»Du hättest einfach kommen und sagen können: ›Mom, es gibt etwas, das ich unbedingt tun muss.‹«
Es dauerte eine ganze Weile, bis er sie ansah und sagte: »Die meisten Kinder erinnern sich daran, dass ihre Mom ihnen Gutenachtgeschichten vorgelesen hat. Ich erinnere mich nur daran, dass ich Klopapier geholt habe, auf deinen Schoß geklettert bin und dir die Tränen abgewischt habe. Ich dachte, es wäre meine Schuld gewesen, weil ich böse war. Aber Tante Aurora erklärte mir, mein Daddy hätte dir das Herz gebrochen, und ich müsste jetzt dir zuliebe stark sein. Damals war ich sechs Jahre alt.«
»Oh, Noah.« Vivi Ann hatte so viel aus dieser Zeit verdrängt; das war letzten Endes notwendig gewesen: Sie hatte vergessen und ihr Leben weiterleben müssen. »Ich wusste nicht, dass du und Aurora darüber gesprochen hattet.«
»Wenn ich Fragen hatte, bin ich zu ihr gegangen. Sie war die Einzige, die mir die Wahrheit gesagt hat. Du hast immer so getan, als wäre Dad tot.«
»Es ging nicht anders.« Mehr brachte sie nicht hervor.
»Aber er ist nicht tot.«
»Nein, ist er nicht.«
»Und ich habe das Recht, ihm helfen zu wollen.«
Fast
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