Das Geheimnis der Schwestern
Die Vorstellung von Myrtles berühmter Eistorte hatte ihr Appetit gemacht.
Es war still in der Stadt an diesem frühen Abend. Der Labor Day markierte hierzulande das offizielle Ende des Sommers, zu dem die Touristen zusammenpackten und mit ihren Wohnmobilen nach Hause fuhren. Ohne ihr Gelärme konnte man wieder die Wellen am Ufer und den Wind in den Bäumen hören. Die erste Hälfte des Septembers war die Lieblingszeit der Einheimischen: Es war noch warm, die Sonne schien, und der Kanal gehörte wieder ihnen.
In der Eisdiele bestellte Winona bei der pickligen Aushilfe an der Verkaufstheke ein Stück von Myrtles Eistorte.
Beim Warten stellte sie sich vor, wie Myrtle hier gestanden und durch das Schaufenster geblickt hatte, während sie die Torte mit Glasur versah. Da die Eisdiele etwas erhöht lag, konnte man von hier aus gut den Eingang zur Gasse sehen.
Winona wandte sich dorthin. Eine schwarze schmiedeeiserne Straßenlaterne stand am Eingang der Gasse Wache und warf ihr warmes, goldenes Licht auf den Bürgersteig.
Das Mädchen kam zurück zum Verkaufsfenster und sagte: »Hier bitte, Mrs Grey. Das macht drei Dollar und zweiundneunzig Cent.«
»Miss Grey«, korrigierte sie leise und bezahlte. Als sie ihr Wechselgeld bekommen hatte, wandte sie sich wieder zur Straßenlaterne. Sie stand genau so, dass sie, wie Myrtle, Dallas mühelos hätte identifizieren können. Zwar hatte sie nur sein Profil gesehen, aber das reichte vollkommen, wenn man jemanden gut kannte.
»Ich werde es Noah erklären«, sagte sie zu sich. »Vielleicht gehe ich sogar mit ihm hierher, um es ihm zu zeigen. Dann weiß er, dass ich ihn ernst nehme.«
Sie überquerte die Straße, aß ein Stück von ihrer Torte und dachte noch mal an Myrtles Zeugenaussage.
Ich hatte ihn früher schon dort gesehen.
Ich hab seine Tätowierung erkannt.
Abrupt blieb Winona stehen. Sie drehte sich langsam um und ging den Shore Drive zurück, vorbei am Souvenirladen, am Fischrestaurant, bis zur Eisdiele.
Von diesem Punkt aus hatte Myrtle Dallas von rechts gesehen.
Winona hatte schon immer ein fotografisches Gedächtnis besessen, und als sie Dallas einstellte, war ihr sein Tattoo aufgefallen. Sie hätte schwören können, dass es auf seinem linken Oberarm war.
Bestimmt irrte sie sich. Eine Menge Leute hatten sich die Beweise angesehen: das Team der Staatsanwaltschaft, die Polizei, sogar die Reporter. Ein Detail wie dieses konnte unmöglich übersehen worden sein.
Natürlich wären die Polizei und die Staatsanwaltschaft nicht daran interessiert gewesen, Myrtles Zeugenaussage zu schwächen. Nur das Team der Verteidigung hätte so genau hingesehen. Genauer gesagt: der Verteidiger. Es hatte kein Team gegeben, aber Roy hatte es sicher überprüft.
Sie machte sich auf den Heimweg, aber als sie die Viewcrest erreichte, bog sie nicht in ihren Garten ein, sondern ging am Historischen Museum vorbei weiter Richtung Water’s Edge.
Vor der Tür des Cottages hielt sie kurz inne und überdachte noch einmal ihr Vorhaben.
Sie wollte Vivi Ann nur von Noahs Bitte erzählen, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Aber ihr Zweifel hatte sich wieder gemeldet, und jetzt musste sie ihn ausräumen.
Sie klopfte, und Noah öffnete fast sofort.
»Hallo, Tante Winona. Hast du den Artikel gelesen?«
Aus der Küche drang Vivi Anns Stimme. »Wer ist es denn, Noah?«
»Tante Winona«, rief er zurück.
»Ich muss wissen, an welchem Arm Dallas sein Tattoo hatte«, flüsterte sie ihm zu.
»Keine Ahnung.«
»Hey, Win. Was für eine nette Überraschung. Möchtest du einen Tee?«
»Gern.« Sie folgte ihrer Schwester in das kleine, gemütliche Wohnzimmer des Cottages. Die alte, schäbige Holzverkleidung war verschwunden. Stattdessen war alles weiß: die Wände, das Spitzdach, die Zierleisten. Zwei schmale Flügeltüren führten hinaus auf die hintere Veranda und die Weiden dahinter. Die Polstermöbel hatten ein altmodisches Muster in Sonnengelb und Hellblau.
Und jetzt? , fragte Noah lautlos.
Winona zuckte mit den Schultern. Frag sie.
Ich?
Vivi Ann brachte ihr eine Tasse Tee. Winona nippte daran, während ihre Schwester Feuer in dem Natursteinkamin machte.
Noah räusperte sich. »Hey, Mom. Ich hab über was nachgedacht.«
»Mach mir keine Angst.«
»Was hältst du eigentlich von Tattoos?«
Vivi Ann trat vom Kamin zurück und drehte sich um. »Ich glaube, es ist allgemein bekannt, dass ich nichts dagegen habe … bei Erwachsenen.«
»Und wenn ich mir eins machen lassen
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