Das Geheimnis der Schwestern
hätte Vivi Ann gelächelt. Normalerweise sah sie Dallas in Noah; jetzt sah sie sich selbst. »Ich weiß, wie du dich fühlst, glaub mir. Ich hätte es vorhersehen und dir helfen müssen. Verzeih mir, bitte.«
»Du wirst Tante Winona also nicht daran hindern?«
Diese Frage war gefährlich wie eine Unterströmung in ruhigem Gewässer; sie kam so plötzlich und zog sie hinunter, bis sie kaum noch Luft bekam. Die Hoffnung, die notwendig war, um gegen das Justizsystem zu kämpfen, hatte sie fast umgebracht. Am Anfang hatte sie noch an Recht und Gesetz geglaubt. Aber sie war sich sicher, wenn sie es noch einmal versuchte und wieder scheiterte, würde sie untergehen. »Ich würde dich nicht aufhalten. Aber … ich möchte nicht, dass du dir Hoffnungen machst. Wenn man nicht aufpasst, kann Enttäuschung einen vergiften. Und dein Dad … ist vielleicht nicht einverstanden mit dem Test.«
»Also glaubst du auch, dass er es getan hat.«
Vivi Ann sah ihren Sohn an. Es schmerzte sie, wie er sich quälte. Leise sagte sie: »Dallas hat noch weniger Vertrauen zur Justiz und wagt noch weniger zu hoffen als ich. Sein ganzes Leben lang hat das System ihn im Stich gelassen. Das ist einer der Gründe, warum er ablehnen könnte.«
Sie wussten beide, was der andere Grund war.
»Aber dann wird es vorbei sein, nicht wahr?«, fragte Noah.
Wenn es eins gab, das Vivi Ann nur zu gut wusste, dann, dass Verluste, genau wie die Liebe, einen Anfang hatten, aber kein wahres Ende. »Ja«, log sie. »Dann ist es wohl vorbei.«
Vierundzwanzig
Auf der langen Fahrt zum Gefängnis ging Winona immer wieder im Kopf durch, was sie zu Dallas sagen wollte. Ich komme im Auftrag deines Sohnes. An den erinnerst du dich doch – Idiotin , schalt sie sich. Du darfst ihn nicht provozieren.
Ich bin im Auftrag deines Sohnes hier. Er will eine Eingabe vor Gericht machen, um die DNA -Spuren vom Tatort neu analysieren zu lassen. Wenn du an jenem Abend wirklich nicht da warst, bist du doch sicher auch daran interessiert.
Als sie das Gefängnis erreicht hatte, warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war Viertel vor zwei. Wenn alles gut lief, würde sie rechtzeitig zum Abendessen bei Mark zurück sein.
Sie fuhr zum bewachten Eingang und sagte ihren Namen in die Sprechanlage. Während sie darauf wartete, eingelassen zu werden, blickte sie auf das düstere graue Gemäuer mit dem Metallzaun und dem Stacheldraht. Sie konnte bewaffnete Wachmänner im Turm erkennen, und als sie durch das Tor auf den Parkplatz fuhr, konnte sie einen unbehaglichen Schauder nicht unterdrücken. Rasselnd schloss sich das Tor hinter ihr.
Sie straffte die Schultern und bemerkte überrascht, wie furchteinflößend auch nur ein Besuch hier war. Wie hatte Vivi Ann es nur geschafft, jahrelang Samstag für Samstag herzukommen?
Sie betrat die Verwaltung und schrak vor dem hohen Geräuschpegel zurück. Obwohl sie nicht viele Menschen sah, vibrierten die Wände vor Lärm. Der Saal kam ihr einschüchternd leer und doch seltsam überfüllt vor.
Am Empfang füllte sie das Formular aus, bekam einen Besucherausweis, verstaute Mantel und Tasche im Schließfach und ging durch den Metalldetektor.
»Normalerweise ersuchen Anwälte um ein privates Treffen mit ihren Klienten«, bemerkte der Wachmann, als er sie den Flur hinunterführte. Das hallende Lärmen wurde lauter. »Sind Sie neu?«
»Es wird nicht lange dauern.«
Schließlich kam er zu einer Tür und schloss sie auf.
Langsam betrat Winona den Raum und war sich ihres teuren Hosenanzugs aus reiner Schurwolle peinlich bewusst. Sie setzte sich auf einen freien Platz, starrte durch die mit Fingerabdrücken übersäte Plexiglasscheibe und achtete sorgsam darauf, nichts anzufassen. Sie konnte die Gespräche um sie herum hören, aber nichts Genaues verstehen. In allen Besucherkabinen pressten Menschen ihre Hände gegen die Scheiben, in dem sinnlosen Versuch, eine Verbindung herzustellen, sich zu berühren.
Endlich ging die Tür auf, und Dallas kam herein. Er trug einen orangefarbenen Overall, der an ihm zu groß wirkte, und alte Flipflops. Seine Haare reichten ihm jetzt bis über die Schultern, und seine Wangen waren eingefallen. Seine dunkle Haut wirkte irgendwie bleicher; doch umgab ihn immer noch eine einschüchternd intensive Aura, eine kaum im Zaum gehaltene Energie, so dass sie unwillkürlich befürchtete, er könnte durch das dünne Plexiglas springen und sie an der Kehle packen.
Er nahm den Telefonhörer und fragte: »Ist mit Vivi Ann alles in
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