Das Geheimnis der Schwestern
ausgesetzt wurden. Sie wusste, wenn sie nicht die Hand ausstreckte und nach ihm fasste, würde sie einsam und allein davondriften. »Luke, bitte …«
»Was, bitte?«
Sie schluckte hart und kämpfte gegen ihre Angst. Sie fürchtete sich davor, die Wahrheit zu sagen – sie war noch nicht bereit; er auch nicht –, aber es blieb ihr jetzt keine andere Wahl mehr.
Sie nahm allen Mut zusammen und fasste ihn am Handgelenk. »Ich weiß, dass du eigentlich noch nicht bereit dazu bist, Luke, aber … ich liebe dich. Wenn du dich nur darauf einlassen würdest, könnten wir miteinander glücklich werden.«
Sie sah seine Antwort, noch bevor er zu sprechen anfing. Kurzzeitig herrschte vollkommene Stille, nur ein Holzscheit im Kamin knackte, dann sah sie seine Überraschung. Und sofort darauf Mitleid.
Ihr Magen verkrampfte sich. Sie hatte ihrem Mörder das Messer gereicht und ihre Brust dargeboten. Wenn sie eine Möglichkeit gesehen hätte, ihn am Sprechen zu hindern, hätte sie sie genutzt, aber es ließ sich nicht mehr aufhalten.
»Ich liebe dich auch«, sagte er und fügte mit leiserer Stimme hinzu: »… als Freundin.«
Sie rückte von ihm ab und wandte ihm den Rücken zu. »Das meinte ich auch«, erwiderte sie bedrückt, obwohl sie beide wussten, dass es eine Lüge war.
»Ich glaube, ich gehe nach Kalispell zurück«, bemerkte er, ohne sich vom Kamin zu rühren.
»Vielleicht findest du da ja ein hübsches, dünnes Mädchen«, sagte sie und griff nach ihrem Mantel.
Da trat er zu ihr, fasste sie bei den Schultern und drehte sie zu sich um. »Winona, daran liegt es nicht. Es ist nur …«
Sosehr sie sich auch bemühte, ihre Tränen zurückzudrängen, es war vergeblich. Ihre Augen brannten. Erbärmlich. In diesem Augenblick war sie wieder das dicke Mädchen, das um das Pferd ihrer Mutter bettelte. »Ich hab’s schon verstanden, Luke. Glaub mir, ich hab’s verstanden.«
Am Montag darauf hörte sie von Aurora – die es ihrerseits von Julie gehört hatte –, dass Luke wieder nach Montana gezogen war.
Zwölf
Auf dem Wasser verging die Zeit in Strömungen, die aufs Ufer zustrebten, immer und immer wieder. Im Winter waren die Wellen größer, mächtiger und mit weißen Schaumkronen besetzt; der Wind peitschte sie auf, und fast täglich regnete es. Aus der Landschaft wich alle Farbe. Selbst die Nadelbäume verloren ihr dunkles Grün und wirkten schwarz vor dem Grau des Himmels, des Wassers und der Wolken.
Mit der Sonne veränderte sich alles, und als im Mai der Regen aufhörte, erblühten über Nacht rosa- und purpurfarbene Azaleen, und überall sah man frisches Grün: auf den Wiesen und an den Bäumen und Sträuchern, die die Straßen säumten. Bei Nacht quakten die Frösche so laut, dass die Leute mitten in der Nacht aufstanden, um ihre Fenster zu schließen.
Im Juni kamen die Sommergäste zurück. Mit ihnen tauchten die Anleger am Kanalufer wieder auf, an denen kurz darauf die Boote festgemacht wurden. Das Diner verlängerte seine Öffnungszeiten und nahm ein paar neumodische vegetarische Sandwiches in die Speisekarte auf, und die Läden für Saisonartikel öffneten. An den Straßenlaternen wurden neue Blumentöpfe mit roten Hängegeranien und blauen Lobelien angebracht.
Vivi Ann bemerkte jede einzelne Veränderung. Jahrelang hatte sie jede saisonale Erscheinung für selbstverständlich gehalten und höchstens als Zeichen dafür angesehen, dass die Zeit voranschritt.
Aber ihre Schwangerschaft wirkte sich auch auf ihr Gespür für Zeit aus. Jetzt maß sie sie in den kleinsten Einheiten – in einer Woche, einem Tag, manchmal sogar in einer Stunde. Nicht nur ihr Körper veränderte sich, sondern alles andere auch. Sie hatte sich noch nie auf etwas so gefreut wie auf die Ankunft ihres Babys. Aber sie hatte sich auch noch nie vor etwas so gefürchtet. Ihre Mutter vermisste sie jetzt täglich und nicht nur flüchtig, so wie als Kind. Die Sehnsucht nach ihr war wie ein heißer, scharfer Schmerz. Sie hatte so viele Fragen und keine Möglichkeit, die dringend benötigten Antworten zu bekommen.
Ihre Angst – etwas ganz Neues für sie – war tiefsitzend und düster. Wenn sie nachts neben Dallas im Bett lag und seinen Schlaf bewachte, überkam sie die Sorge, sie wäre vielleicht zu egoistisch, um eine gute Mutter zu sein, zu unreif, um einen anderen Menschen durchs Leben zu führen. Sie machte sich auch Sorgen wegen seiner – oder ihrer – Herkunft und fragte sich, wie sie dem Kind helfen sollte, sich in
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