Das Geheimnis der Schwestern
hier ist Auroras Lieblingsengel mit dem geknickten Flügel.
Aber es hatte sich nicht richtig angefühlt. Aurora und Vivi Ann hatten gescherzt, gelacht und sich gekabbelt, welches Weihnachtsalbum gespielt werden sollte, während Winona sich immer ausgeschlossener fühlte. Sie wusste, dass es falsch war, dass sie ihren Groll und ihre Verbitterung beiseiteschieben und ganz normal weitermachen sollte. Aber irgendwie schien ihr das nicht zu gelingen.
Das Problem war Dallas. Er war wie ein Tumor in ihrer Familie, und nur sie wusste, dass er bösartig war.
Es war ganz gleich, wie sehr er Vivi Ann augenscheinlich liebte (und für Winona lag die Betonung auf augenscheinlich ) oder wie großartig seine Arbeit auf der Ranch war. Wichtig war nur, dass man ihm nicht trauen durfte. Sein Vorstrafenregister bewies das: Irgendwie würde er ihrer Familie schaden.
Jeder beim Weihnachtsessen hätte das sehen müssen. Der Tisch war wie immer gedeckt worden und sah einfach perfekt aus. Daddy hatte eine neue, dunkelblaue Jeans und ein fri sches weißes Hemd angezogen, das er bis oben hin zu geknöpft hatte. Aurora, Richard und die Kinder sahen aus, als wären sie gerade einem Katalog entsprungen, und Vivi Ann in ihrem grünen Samtkleid strahlte wie eine Schönheitskönigin.
Aber Dallas saß wie ein Fremdkörper neben seiner Frau und wirkte unbeholfen und peinlich berührt angesichts der Abläufe. Winona beobachtete ihn unauffällig. Sein langes Haar und das hellblaue Hemd ließen ihn nicht zahmer wirken; im Gegenteil, dadurch sah er nur noch gefährlicher aus .
Hätte Winona eine Möglichkeit gesehen, die Wahrheit zu enthüllen, dann hätte sie es getan; aber Dallas war schlau. Er ließ es langsam angehen und stellte keine Forderungen. Er wartete im Hintergrund und tat so, als wäre er bereit, für das zu arbeiten, was er anstrebte. Die Cowboys hatten ihn akzeptiert, und die Frauen in der Stadt sprachen neuerdings von der »großen Liebe« zwischen Vivi Ann und Dallas. Selbst Aurora wollte nichts von seiner kriminellen Vergangenheit hören und verbot Winona den Mund.
Jetzt schlug Vivi Ann ihre Gabel leicht gegen ihr Glas und bat damit um Gehör.
Pflichtschuldigst blickte Winona zu ihrer Schwester am Ende des Tischs und nahm mit schmerzlicher Klarheit mehrere Dinge gleichzeitig wahr: Vivi Ann war noch schöner als sonst, sie strahlte geradezu – und sie trank Wasser.
»Wir bekommen ein Baby«, verkündete Vivi Ann und erhellte mit ihrem Lächeln den ganzen Raum.
Winona hörte die Ankündigung seltsam verzerrt, so als befände sie sich unter Wasser oder hinter einer Wand aus Glasbausteinen. Sie sah alle außer ihrem Vater aufspringen, um Vivi Ann zu gratulieren; sie hörte Jubel und aufgeregte Rufe, sie sah, wie Aurora Vivi Ann unter Tränen der Rührung umarmte.
Winona wusste, sie sollte jetzt auch aufstehen und sich dem Jubel anschließen, aber sie konnte es nicht. Sie blieb einfach sitzen. Einmal, als sie klein war, hatte sie es auch mit Barrel-Racing versucht. Es war eine der seltenen Gelegenheiten gewesen, bei denen ihr Vater sie ermutigt hatte. Also war sie auf Clems breiten Rücken geklettert und hatte sie angetrieben. Schon beim ersten Fass hatte sie sich kaum noch halten können, und beim zweiten hatte sie den Halt verloren. Sie wusste noch, wie es sich anfühlte: wie sie losgelassen hatte, seitlich vom Sattel gerutscht war und den Steigbügel verloren hatte. Eine Sekunde bevor sie fiel, hatte sie gemerkt, was passieren würde, und jetzt verspürte sie die gleiche Angst. Von nun an würde Dallas Teil ihrer Familie sein, ganz gleich, was geschah. Der Krebs hatte Metastasen gebildet.
Sie blickte zur Seite und sah, dass Dallas sie anstarrte. Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her und hob dann ihr Glas zum Toast. »Ein Hoch auf Vivi Ann … die jetzt ein Baby bekommt …« Auch. Sie versuchte zu verdrängen, dass sie allein war, aber es war unmöglich. Sie war die Älteste, und doch war sie die Einzige, die immer noch keinen Mann und keine Kinder hatte.
Danach lief der Abend für sie wie ein Film ohne Ton ab. Sie tat alles, was man von ihr erwartete – räumte mit ihren Schwestern den Tisch ab und spülte, legte ihr Lieblingsalbum von Elvis auf und tanzte in der Küche, las ihrer Nichte und ihrem Neffen die Weihnachtsgeschichte vor – aber es kam ihr alles unwirklich vor.
»Du bist keine besonders gute Schauspielerin.«
Winona hatte ihn nicht mal kommen hören. Offenbar war es eine seiner Stärken,
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