Das Geheimnis der Schwestern
ihn. Sie kannte ihn bis auf den Grund seiner Seele. Sie hatte erlebt, wie er seinen schlafenden Sohn ansah und wie er über ihre kleine Familie sprach. Liebe war für Dallas kein oberflächliches Gefühl, genauso wenig wie Freundschaft. Ganz gleich, was er früher getan hatte, jetzt, das wusste sie, hätte er Cat niemals umbringen können. »Das muss ich nicht, Dallas. Ich weiß, dass du unschuldig bist.«
Da schien er vor ihren Augen zu zerbrechen. Wortlos wandte er den Blick ab.
»Jetzt zieh dich an. Wir müssen zur Beerdigung deiner Freundin.«
Die nächsten beiden Stunden gingen sie schweigend ihren Alltagspflichten nach. Nur Noahs fröhliches Plappern unterbrach die Stille.
Um elf Uhr tauchten Aurora und Richard auf. Sie wirkten besorgt und niedergedrückt. Vivi Ann und Aurora blickten sich eine ganze Weile ohne ein Wort an, dann stiegen sie alle in Richards schwarzen, vom Regen glänzenden Suburban. Sie brachten Noah zu sich nach Hause, wo er mit Janie, Ricky und der Babysitterin bleiben sollte, und fuhren weiter zur Kirche.
Dort waren fast alle Bänke von Trauergästen besetzt. Während des kurzen, unpersönlichen Trauergottesdienstes ließ Vivi Ann nicht Dallas’ Hand los. Sie spürte seine Anspannung; manchmal drückte er ihre Hand so fest, dass es weh tat. Nach dem Gottesdienst stand sie auf und zog ihn unbeholfen zu sich hoch. Zusammen drängten sie sich in die Menge, die den Gang entlang und dann nach unten in den Gemeindesaal strebte, wo das Büfett schon aufgebaut war. Niemand blickte Dallas oder Vivi Ann direkt an. Wie üblich hatten die Frauen den Verlust eines Gemeindemitglieds backend verarbeitet. Die Gäste standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich. Aber niemand weinte, und es wurden auch keine Fotos von Cat gezeigt.
»Heuchler«, murmelte Dallas. »Sieh sie dir an. Diese Frauen haben die Straßenseite gewechselt, sobald sie Cat sahen.«
»Sei still«, sagte Vivi Ann scharf.
Aurora, Richard, ihr Dad und Winona traten zu ihnen und nahmen sie in ihre Mitte. Vivi Ann war ihnen dankbar für ihre Unterstützung, aber sie sah ihrem Dad an, dass er nur ungern gekommen war.
Und auf einmal stand Al in Uniform vor ihnen. »Dallas Raintree, ich muss Sie mitnehmen«, erklärte er mit lauter, bedeutungsschwangerer Stimme. »Wir haben ein paar Fragen an Sie.«
Vivi Ann umklammerte die Hand ihres Mannes. »Komm schon, Al. Du kannst unmöglich glauben –«
Dallas entzog ihr seine Hand. »Natürlich glaubt er es.«
Al fasste Dallas am Arm und führte ihn aus dem Gemeindesaal. Die Menge teilte sich und beobachtete in ungewohntem Schweigen das Drama, das sich vor ihnen abspielte.
Vivi Ann folgte Al und Dallas durch die Menge und flehte Al an, doch vernünftig zu sein, aber der antwortete nicht, sondern führte Dallas zu seinem Wagen und fuhr mit ihm fort.
Vivi Ann öffnete ihre Tasche und suchte in dem Durcheinander nach ihren Schlüsseln. Dann ging ihr auf, dass sie nicht hierhergefahren war. Sie sah sich nach Aurora um und bemerkte, dass sich Leute auf der Treppe vor der Kirche drängten und zu ihr herüberstarrten. »Er war es nicht«, schrie sie zu ihnen hinüber. Ihr brach die Stimme, und plötzlich überwältigten sie die Gefühle, die sie zu unterdrücken versucht hatte. Sie merkte, dass sie weinte, konnte aber nicht aufhören. Sie brachte noch nicht mal die Kraft auf, sich abzuwenden.
Aurora kam zu ihr und legte den Arm um sie. Winona kam als Nächste. Gemeinsam schirmten sie sie von den anderen ab. Vivi Ann bemerkte, dass sich ihr Vater abseits hielt und blieb, wo er war.
»Komm«, sagte Winona. »Wir bringen dich nach Hause.«
»Nach Hause?« Vivi Ann sah sie ungläubig an. »Bringt mich zur Polizei. Ich muss für ihn da sein, wenn er fertig ist.«
Aurora und Winona tauschten einen Blick.
»Was ist?«, fragte Vivi Ann.
»Mach keine Szene«, bat Aurora entschieden. »Gehen wir zum Wagen.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Dann brech ich dir das Bein«, antwortete Aurora, blickte lächelnd zur Menge und sagte laut: »Ihr geht’s gut. Kein Grund zur Sorge.«
»Wir bringen dich zur Wache«, sagte Winona. Daraufhin ging Vivi Ann mit ihnen.
Die Fahrt zur Polizeiwache war so kurz, dass keine Zeit zum Reden blieb. Vivi Ann wusste ohnehin nicht, was sie sagen sollte. Kaum hatte der Wagen gehalten, stieg sie aus und rannte ins Gebäude.
»Ich will meinen Mann abholen, Helen.«
Die Frau, die sie seit ihrer Kindheit kannte, wich ihrem Blick aus. »Er wird gerade befragt,
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