Das Geheimnis der Schwestern
Vivi Ann. Albert sagt, er wird ihn gehen lassen, sobald es möglich ist. Du kannst im Aufenthaltsraum warten, wenn du willst, aber es könnte dauern.«
Aurora und Winona traten zu ihr und führten sie in den Aufenthaltsraum. Dort saßen sie auf Plastikstühlen an einem Resopaltisch und tranken bitteren Automatenkaffee. Die ersten beiden Stunden unterhielten sie sich über Belanglosigkeiten, versuchten, Konversation zu betreiben, aber der Zeiger der schwarzweißen Uhr an der Wand rückte immer weiter vor.
»Du kennst dich doch mit diesen Dingen aus, Winona«, sagte Vivi Ann schließlich. »Was machen sie jetzt mit ihm?«
»Sie befragen ihn, aber keine Sorge. Er ist zu schlau, um irgendwas zu gestehen.«
Vivi Ann sah sie an. »Es passiert ständig, dass Unschuldige irgendwelche Fehler machen. Weil sie meinen, sie hätten nichts zu verbergen.«
»Du musst dich aufs Schlimmste gefasst machen«, erklärte Winona mit ausdrucksloser Stimme.
»Auf so was hast du doch gewartet, oder nicht, Win? Du brennst doch darauf, mir zu sagen, du hättest die ganze Zeit recht gehabt.«
»Lass das, Vivi«, schaltete Aurora sich ein. »Wir sollten uns jetzt nicht streiten.«
»Ich hatte auch recht«, erwiderte Winona. »Wenn du von Anfang an auf mich gehört hättest, würden wir jetzt nicht hier sitzen. Ich hab dir gesagt, dass Dallas nur Ärger macht. Er hat sein ganzes Leben auf der falschen Seite gestanden.«
»Hau ab, Winona«, zischte Vivi Ann. »Ich kann dich nicht mehr ertragen.«
»Das ist doch nicht dein Ernst, Vivi«, entgegnete Aurora.
»Dallas hat immer gesagt, dass du eifersüchtig auf mich bist. Er hatte recht, nicht wahr? Wahrscheinlich genießt du das alles.«
»Nur weil ich wusste, dass dies passieren würde, genieße ich es noch lange nicht. Was hast du denn erwartet, mit einem Mann wie ihm?«
»Du verstehst das natürlich nicht. Über Liebe weißt du doch nur, wie es sich anfühlt, keine zu bekommen! Hat dir eigentlich je ein Mann gesagt, dass er dich liebt?«
»Vivi«, sagte Aurora warnend.
»Nein, sie soll weg. Weg. Wenn sie glaubt, er ist schuldig, kann sie abhauen.« Vivi Ann wusste, dass sie schrie, dass sie hysterisch war, aber sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle.
Winona griff nach ihrer Tasche und stand auf. »Gut. Wenn du das allein durchstehen willst, bitte.«
Aurora versuchte, Winona aufzuhalten. »Sie weiß doch nicht, was sie sagt, Win.«
Aber Winona marschierte schon zur Tür und riss sie auf.
»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte Aurora, als die Tür hinter ihr zuknallte.
»Ich konnte mir ihr Gerede nicht mehr anhören.«
Aurora stand langsam auf, seufzte und holte ihnen noch zwei Becher abgestandenen Kaffee. Sie gab reichlich Milchpulver und Zucker hinzu und setzte sich dann wieder zu Vivi Ann. »Das wird übel enden«, meinte sie.
»Es ist schon übel.«
»Nein«, sagte Aurora und rührte in ihrem Kaffee. »Ich glaube, das ist erst der Anfang.«
Stunden später kam Al schließlich in den Aufenthaltsraum. Er wirkte erschöpft und bekümmert.
Vivi Ann stand auf. »Wo ist er?«
»Er hat den Lügendetektortest nicht bestanden, Vivi Ann«, erklärte Al.
»Das Ergebnis ist gar nicht zulässig. Das hab ich im Fern sehen gesehen«, sagte Aurora und stellte sich neben Vivi Ann.
Vivi Ann hatte gedacht, sie hätte eben auf dem Parkplatz vor der Kirche Angst gehabt, oder schon, als sie das leere Handschuhfach sah und herausfand, was er mit der Waffe gemacht hatte. Aber sie hatte sich geirrt. Im Vergleich zu dem, was sie jetzt überkam, war das gar nichts gewesen. Der Unterschied war so groß wie zwischen Fliegen und Fallen.
»Wir haben ihn verhaftet, Vivi«, sagte Al. »Wegen Mordes. Du besorgst ihm am besten einen Anwalt.«
Aurora fluchte leise. »Ein toller Zeitpunkt, Winona in den Wind zu schießen.«
Auf dem Heimweg fiel Winona eine bissige Retourkutsche nach der anderen ein: Selbstverständlich bist du die Expertin in Sachen Liebe. Wenn ich schamlos herumgeflirtet hätte wie du, wäre ich auch flachgelegt worden. Oder: Er liebt dich doch gar nicht. Wieso kapierst du das nicht? Ach ja, ich vergaß: Du bist ja blond. Oder : Wenn das Liebe ist, hätte ich lieber die Schweinegrippe.
Zu Hause angekommen, riss sie die Tür auf und ging hinein. Das Haus war weihnachtlich geschmückt: Tannenbaum in der Ecke, Schlitten mit Rentieren auf dem Sofatisch und ein lächerlich optimistischer Mistelzweig, der im Türrahmen zwischen den Räumen hing. Sie riss ihn herunter und warf ihn
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