Das Geheimnis der Schwestern
zum Weihnachtsbaum.
»Der übliche Zirkus«, bemerkte Dallas mit Blick auf die Weihnachtsdekoration.
In diesem Moment trat Richard zu ihnen. Er trug eine braune Bundfaltenhose, die er hoch in der Taille mit einem braunen Gürtel zusammenhielt, ein blaues Karohemd und Socken und vermittelte wie immer den Eindruck, gleichzeitig bleiben und gehen zu wollen. »Dallas«, sagte er und nickte. »Ich hab gehört, du hast beim neuen Fohlen der Jurikas Wunder bewirkt.«
»Es ist ein ziemlicher Teufel«, antwortete Dallas. »Erst letzte Woche …«
Vivi Ann drückte die Hand ihres Mannes und ging dann in die Küche. Winona stand an der Arbeitsfläche und rollte aus Teigquadraten Hörnchen. Als Vivi Ann eintrat, blickte sie auf und hielt inne. »Hey.«
Für eine Sekunde fühlte sich Vivi Ann in die Vergangenheit zurückversetzt. Das fahle Licht der Wintersonne umspielte das volle, schöne Gesicht ihrer Schwester und ließ sie an eine andere Begebenheit in dieser Küche denken.
Ich male ein Bild für Mama , hatte sie gesagt und sich dabei so klein und vergessen gefühlt, wie es nur ein Kind kann. Das war ihre eindrücklichste Erinnerung von der Beerdigung ihrer Mutter: Sie hatte sich unsichtbar gefühlt. Aber Winona hatte sie gesehen, war neben ihr in die Hocke gegangen, hatte ihr über den Kopf gestrichen und gesagt: Wir hängen es an den Kühlschrank.
Damals hatte Vivi Ann gedacht, sie beide würden immer so verbunden bleiben, nichts könne zwei Schwestern auseinanderreißen.
Aber natürlich hatte sie damals noch nichts über die Liebe erfahren. Vivi Ann wusste, dass ihre Versöhnung nur halbherzig war, obwohl Win es niemals zugeben würde. Sie traute Dallas immer noch nicht und hatte auch Vivi Ann nicht verziehen, dass sie Luke weh getan hatte. Für Winona gab es nur Schwarz oder Weiß. Gerechtigkeit war ihr das Wichtigste. Und in ihren Augen war Vivi Ann für ihr Fehlverhalten belohnt worden.
Plötzlich streckte Vivi Ann die Hand aus, nahm Winonas und wirbelte sie zum Rhythmus der Musik herum. Mit dieser Bewegung legte sie einen Schalter um und katapultierte sie zurück in die Siebziger, als es für sie noch völlig normal gewesen war, am Weihnachtsmorgen in der Küche zu tanzen.
Kommt schon, meine Gartentöchter , hatte Mom tänzelnd gesagt, ich brauche ein paar Tanzpartner.
Aurora kam in die Küche, drängte sich zwischen sie und übernahm die Führung. »Ihr kleinen Verräterinnen werdet doch wohl nicht ohne mich tanzen. Im Gegensatz zu euch habe ich Rhythmusgefühl.«
»Ja, vom Hüftenwackeln auf der Highschool«, sagte Vivi Ann lachend.
Seltsam, wie ein Song, ein Tanz oder auch nur ein Blick die Vergangenheit wieder lebendig machen konnte! Der Rest des Tages verging wie eine Diashow aus Schnappschüssen: Geschenke auspacken, Wein trinken, in unterschiedlichen Gruppierungen miteinander plaudern, Janie und Ricky beim Ausprobieren ihrer neuen Räder beobachten, Noah mit den Geschenkbändern im Haar aufziehen. Nicht mal ihr Vater in seinem trunkenen Trübsinn konnte ihnen den Spaß verderben.
Am Ende des Weihnachtsessens, als die Frauen den Nachtisch serviert und wieder ihre Plätze eingenommen hatten, stand Dallas auf. »Mit alldem wird mein Sohn aufwachsen.« Mit einer Handbewegung umfasste er die gesamte Szenerie. »Ich danke euch dafür.«
Vivi Ann blickte ihren Mann über den Tisch hinweg an.
»Dada«, sagte Noah auf ihrem Schoß und grinste.
»Ja«, erwiderte sie leise. »Das ist dein Daddy.«
Kurz darauf plauderten und scherzten sie wieder miteinander und verglichen die verschiedenen Desserts. Nach dem Essen versuchte Vivi Ann, die anderen zu einer Runde Scharade zu überreden. »Kommt schon, Leute. Das macht doch Spaß …«
Da klingelte es an der Tür, und Sheriff Bailor kam herein.
»Hey, Al«, sagte Aurora und stand auf, um ihn zu begrüßen. »Sag Vivi Ann, dass wir nicht zum Spielen aufgelegt sind. Herrgott noch mal, schließlich sind wir noch nüchtern.«
»Tut mir leid, euch das Weihnachtsfest zu verderben«, erklärte Al, nahm den Hut ab und spielte nervös damit.
Der Vater stand auf. »Gibt es ein Problem, Al?«
»Gestern Nacht ist Cat Morgan ermordet worden.«
Langsam stand Dallas auf. Es war unübersehbar, wie blass er geworden war. »Wie ist das passiert?«
»Tja«, sagte Al und blickte ihn über den Tisch hinweg an, »das will ich ja herausfinden. Wo warst du gestern Nacht, Dallas?«
Vierzehn
BÜRGERIN VON OYSTER SHORES IN IHREM EIGENEN HAUS ERSCHOSSEN
Am 25 . Dezember
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