Das Geheimnis der Schwestern
provokanten Blick in die Outlaw Tavern spaziert war, gewusst, dass er Ärger brachte. Allein dass er sich an Vivi Ann herangemacht hatte, bewies schon, dass er nicht wusste, wo sein Platz war. Vivi Ann hatte sich von ihm blenden lassen. Davon waren alle überzeugt.
Winona hatte die letzten fünf Monate in einer Warteschleife verbracht. Alle wussten, dass ihre Schwestern nicht mehr mit ihr redeten. Dallas’ Verhaftung hatte die einst fest zusammenhaltende Familie Grey in zwei Lager gespalten: Aurora und Vivi Ann auf der einen und Winona und Henry auf der anderen Seite. Die Sympathien lagen gleichermaßen auf beiden Seiten. Man war sich allgemein einig, dass Dad und Winona ganz am Anfang den außergewöhnlichen Fehler begangen hatten, Dallas überhaupt einzustellen. Zwar war niemand der Meinung, dass Henry für einen privaten Verteidiger hätte bezahlen sollen (nach der Devise: Warum gutes Geld zum Fenster rausschmeißen? ); trotzdem hielt man es für falsch, darüber eine Familie zerbrechen zu lassen.
Für ihre eigene Verteidigung hatte Winona gezielt und geschickt Verlautbarungen von sich gegeben: dass sie keine Strafverteidigerin sei und Dallas folglich nicht vertreten könne; dass sie sich unbedingt mit Vivi Ann versöhnen wolle und den Tag herbeisehne, an dem ihre jüngste Schwester wieder in die Familie zurückkehre. Das schlagendste Argument für ihre Sache war jedoch, dass Vivi Ann immer ihren eigenen Kopf gehabt habe und irgendwann lernen müsse, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, Dallas zu vertrauen. Winona schloss stets mit der Versicherung, an diesem Tag würde sie da sein, um Vivi Anns Tränen zu trocknen.
Das stimmte auch. Für Winona war jeder Tag, der ohne Kontakt zu ihren Schwestern verging, eine fast unerträgliche Last. Die ersten Monate hatte sie versucht, eine Brücke zu bauen, den Schaden wiedergutzumachen, aber jeder ihrer Versuche, sich zu versöhnen oder sich zu erklären, war ignoriert worden. Vivi Ann und Aurora hörten ihr weder zu, noch sprachen sie mit ihr. In der Kirche setzten sie sich nicht mal mehr in die Familienbank.
Mitte Mai, als die Rhododendren ihre tellergroßen Blüten zeigten und die Azaleen im Garten in bunter Farbenpracht erblühten, wartete sie nur noch darauf, dass der Prozess endlich begann. Wenn alles vorbei und Dallas verurteilt wäre, würde sich Vivi Ann endlich der hässlichen Wahrheit stellen. Dann würde sie ihre Familie wieder brauchen. Und Winona würde sie mit offenen Armen empfangen und sich um sie kümmern.
Am ersten Prozesstag stand sie früh auf, zog sich sorgfältig an und betrat mit den ersten Besuchern den Zuschauerraum des Gerichtssaals. Als sie sah, wie der Pflichtverteidiger eintrat und seine Aktenordner zum Tisch der Verteidigung brachte, wusste sie, dass es richtig gewesen war, Dallas nicht zu vertreten. Einen Prozess dieser Größenordnung hätte sie niemals führen können. In der Woche zuvor hatte sie sich die Anhörung und Bestellung der Geschworenen angesehen und war überzeugt, dass der Prozess ihre Fähigkeiten überstiegen hätte. Allerdings zweifelte sie auch an der Kompetenz des Verteidigers. Er hatte ein paar Einwohner von Oyster Shores als Geschworene zugelassen, was Winona nicht besonders klug erschien.
Sie ging zu einem Platz in der dritten Reihe, setzte sich und hörte, wie hinter ihr weitere Besucher herandrängten. Im Nu war der Zuschauerraum voll. Die ganze Stadt wollte heute dabei sein. In dem holzgetäfelten Saal war das Geflüster so laut wie die steigende Flut.
Auf der rechten Seite des Saals saßen, ganz vorn, die stellvertretende Staatsanwältin Sara Hamm und ihr junger Assistent. Auf der linken Seite, am Tisch der Verteidigung, saß Roy Lovejoy, der Anwalt, der mit Dallas’ Fall betraut war. Winona hatte sich bemüht, so viele Informationen wie möglich vom Büro des Staatsanwalts zu bekommen, doch während der Voruntersuchungen waren alle ziemlich verschwiegen gewesen. Sie wusste nur, was allgemein bekannt war: Die Anklage wegen Vergewaltigung war fallen gelassen worden, die Anklage wegen Mordes bestätigt. Die Medien waren auch nicht besonders hilfreich gewesen. Der Mord an einer alleinstehenden Frau in einer Kleinstadt bot kaum Anlass für tiefgehende Hintergrundrecherchen. Sensationsmeldungen über Dallas’ und Cats anrüchige Vergangenheit gab es in Hülle und Fülle; nur Fakten waren schwer zu bekommen.
Um Viertel vor neun betraten Vivi Ann und Aurora Hand in Hand den Gerichtssaal.
Vivi Ann
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