Das Geheimnis der Schwestern
Hand und las Zeitung. Den ganzen Heimweg hatte sie sich überlegt, was sie sagen würde und wie, doch eigentlich war das ganz gleich. Er war ihr Vater, und sie brauchte seine Hilfe.
Sie nahm auf dem Sessel ihm gegenüber Platz. »Ich brauche fünfundzwanzigtausend Dollar, Dad. Du könntest eine zweite Hypothek auf die Ranch aufnehmen, und Dallas und ich würden es dir zurückzahlen. Mit Zinsen.«
Er starrte so lange auf die Zeitung, dass sie anfing, sich Sorgen zu machen. Sie musste sich sehr beherrschen, um geduldig auf eine Antwort zu warten. Ihre ganze Welt war gefährdet, doch sie kannte ihn gut genug, um ihn nicht zu drängen. Er war vielleicht manchmal etwas wortkarg und engstirnig, aber vor allem war er ein Grey, und dementsprechend würde seine Antwort lauten.
»Nein.«
Das sagte er so leise, dass sie meinte, sie hätte sich verhört. »Hast du gerade nein gesagt?«, hakte sie nach.
»Du hättest diesen Indianer niemals heiraten sollen. Das weiß doch jeder. Außerdem hättest du nicht zulassen dürfen, dass er sich so oft bei dieser Morgan herumtreibt. Er hat uns Schande gemacht.«
Vivi Ann traute ihren Ohren nicht. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Doch.«
»So also kümmerst du dich um Moms Garten?«
Er blickte zu ihr auf. »Was hast du gesagt?«
»Mein ganzes Leben hab ich dich in Schutz genommen. Ich hab Win und Aurora immer wieder versichert, dass Moms Tod dir das Herz gebrochen hat, aber das stimmt gar nicht, oder? Du bist gar nicht der, für den ich dich gehalten habe.«
»Tja, du aber auch nicht.«
Vivi Ann stand auf. »Du hast mir ständig die alten Familiengeschichten erzählt, damit ich stolz bin, eine Grey zu sein. Warum hast du mich nicht gewarnt, dass all das eine Lüge ist?«
» Er ist kein Grey«, erklärte ihr Dad.
Vivi Ann war schon an der Tür, als sie sich noch mal umdrehte und sagte: »Ich auch nicht. Nicht mehr. Jetzt bin ich eine Raintree.«
Vivi Ann ging den Hügel hinauf zu ihrem Cottage. Am Reitstall blieb sie wie gelähmt stehen. Ihre geliebte Ranch lag still und kalt vor ihr; die kahlen Bäume an der Zufahrt wirkten vor dem grauen Himmel und den braunen Feldern einsam und schutzlos. Sie sah, dass noch ein paar welke Blätter sich hartnäckig an die Äste klammerten, aber bald würden auch sie loslassen und verschwinden. Eins nach dem anderen würde zu Boden fallen und dort langsam schwarz werden und verrotten.
In diesem Augenblick fühlte sie sich wie eins dieser einsamen Blätter, denn plötzlich wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie niemanden mehr hatte. Sie hatte sich an etwas geklammert, das ihr in Wahrheit keinen Halt bot.
Ohne ihren Vater wusste sie nicht mal mehr, wer sie war, wer sie sein sollte. Sie ging in den kalten dunklen Reitstall und schaltete das Licht ein. Sofort wurden die Pferde unruhig und stampften leise wiehernd, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Dieses eine Mal ging sie nicht langsam und aufmerksam an den Boxen vorbei, sondern marschierte direkt zu Clems, öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Eine frische Lage aus rötlichen Zedern-Sägespänen dämpfte ihre Schritte und ließ sie fast lächerlich federnd gehen.
Clem wieherte leise zur Begrüßung, kam zu ihr und rieb ihre samtige Nase an Vivi Anns Bein.
»Du und ich, mein Mädchen, eigentlich hatten wir immer nur uns, nicht wahr?«, sagte sie und kratzte ihr die Ohren. Sie schlang ihr die Arme um den Hals, presste ihre Stirn gegen ihre warme, weiche Mähne und sog genüsslich ihren Geruch ein.
Noch zwei Jahre zuvor, vielleicht sogar noch im letzten Jahr, hätte sie sich jetzt das Zaumzeug geschnappt, wäre ohne Sattel auf Clems Rücken gesprungen und einfach losgeritten. Wie der Wind wären sie geritten, schnell genug, um die Tränen zu trocknen, schnell genug, um der Leere zu entkommen, die sich in ihrem Inneren ausbreitete.
Aber Clem war jetzt alt, ihre Gelenke knackten, und ihre Beine schmerzten. Die Zeiten, in denen sie wie der Wind gelaufen war, waren längst vorbei. Leider war sie im Geist noch jung, und Vivi Ann wusste, dass sie geduldig darauf wartete, wieder geritten zu werden.
»Es hat sich zu viel geändert«, sagte Vivi Ann und gab ihr Bestes, um stark zu klingen, aber mitten im Satz wurde ihr alles noch einmal bewusst: das Nein ihres Vaters, Winonas Weigerung, ihr zu helfen, Noahs klagende Frage nach seinem Dada, als sie ihn am Abend zuvor ins Bett brachte, und Dallas’ Kuss kurz vor Cats Beerdigung. Damals hatte sie nicht gewusst, dass es ihr letzter Kuss
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