Das Geheimnis der Schwestern
Hals gehängt wurde. Sie folgte einem anderen Uniformierten durch einen weiteren Flur bis zu einer Tür, auf der Besuchsraum stand.
»Sie haben eine Stunde«, erklärte er und öffnete die Tür.
Vivi Ann nickte und betrat den langgestreckten Raum mit der niedrigen Decke. Eine Plexiglaswand teilte den Raum in zwei Hälften. Zu beiden Seiten dieser Wand befanden sich Kabinen mit jeweils einem Stuhl und einem schwarzen Telefon.
Vivi Ann ging zur letzten Kabine auf der linken Seite und setzte sich. Das Plexiglas war mit tausend Fingerabdrücken verschmiert.
Sie wusste nicht genau, wie lange sie dort saß, doch das Warten kam ihr endlos vor. Irgendwann erschien auf der anderen Seite eine Frau und setzte sich. Durch das verzerrende Plexiglas sahen sie sich an, dann wandten sie den Blick ab.
Endlich ging die Tür auf, und Dallas war da, in einem orangefarbenen Overall und Flipflops. Seine langen Haare fielen ihm ins Gesicht, das verfärbt und geschwollen war.
Er kam zu der Kabine und ließ sich auf seiner Seite der schmutzigen Plexiglasscheibe nieder. Langsam griff er zum Telefonhörer.
Sie tat es ihm gleich. »Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
»Sie haben es ›Widerstand gegen die Staatsgewalt‹ genannt.«
»Hast du denn Widerstand geleistet?«
»Allerdings.«
Da sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte, erklärte sie: »Ich suche nach einem guten Verteidiger. Aber der wird eine Menge Geld kosten. Trotzdem versuche ich es weiter. Ich kann nicht –«
»Ich habe bereits unterschrieben, dass ich mir keinen Anwalt leisten kann, und einen Pflichtverteidiger zugeteilt bekommen. Du wirst dich nicht in Schulden stürzen, um mich zu retten.«
»Aber du bist unschuldig.«
Daraufhin bedachte er sie mit einem derart kalten Blick, dass er ihr eine Sekunde lang wie ein Fremder vorkam. »Du wirst jetzt eine Lektion in Zynismus bekommen. Wenn das alles hier vorbei ist, wirst du nicht mehr wissen, an was du glauben sollst. Also wirst du an gar nichts mehr glauben. Das wird mein Geschenk an dich sein.«
»Ich liebe dich, Dallas. Alles andere ist unwichtig. Wir müssen stark sein. Mit unserer Liebe werden wir das überstehen.«
»Meine Mom hat meinen Dad geliebt, bis er sie umbrachte.«
»Wag es ja nicht, dich mit ihm zu vergleichen.«
»Bevor das hier alles überstanden ist, wirst du hören, wie er mich einschloss, mich misshandelte und mich mit Zigaretten verbrannte. Sie werden behaupten, dass ich dadurch bösartig wurde. Sie werden behaupten, ich hätte Sex mit Cat gehabt, ich –«
Vivi Ann presste ihre Hände gegen die Scheibe. »Berühr mich, Dallas.«
»Ich kann nicht«, sagte er, und sie sah, wie dieses Eingeständnis an ihm zehrte und ihn wütend machte. »Liebe ist kein Schutzschild, Vivi. Es wird Zeit, dass du das einsiehst.«
»Berühr meine Hand.«
Langsam hob er die Hand und drückte sie gegen ihre. Sie spürte zwar nur das glatte Plexiglas, aber sie schloss die Augen und versuchte, sich an die Wärme seiner Haut zu erinnern. Als sie die Erinnerung heraufbeschworen hatte und in ihrem Herzen bergen konnte, öffnete sie die Augen. »Ich bin deine Frau«, sprach sie in den Telefonhörer. »Ich weiß nicht, wer dir beigebracht hat, dass du immer auf der Flucht sein sollst, aber dazu ist es jetzt zu spät. Wir werden uns erheben und kämpfen. Und dann kommst du wieder nach Hause. So wird das laufen. Hast du verstanden?«
»Es macht mich krank, dich hier zu sehen, dieses dreckige Glas zu berühren, durchs Telefon mit dir zu sprechen und gegen meine Tränen zu kämpfen.«
»Zieh dich nur nicht zurück. Es ist das Einzige, was ich jetzt habe.«
»Ich habe Angst«, sagte er leise.
»Ich auch. Aber vergiss nie, dass du nicht allein bist. Du hast eine Frau und einen Sohn, die dich lieben.«
»Hier drin ist es schwer, das zu glauben.«
»Glaub es, Dallas«, versicherte sie und schluckte ihre Tränen hinunter. »Ich werde dich niemals aufgeben.«
Den gesamten Winter und den darauffolgenden Frühling war Dallas Raintrees bevorstehender Prozess das Gesprächsthema Nummer eins in der Stadt. Es war wirklich ein saftiger Leckerbissen in der Gerüchteküche. Die große Frage war: Hatte er es getan? Allerdings interessierte das in Wahrheit kaum jemanden. Die meisten waren schon seit Dallas’ Verhaftung davon überzeugt. In Oyster Shores war man gesetzestreu und konnte sich einen Justizirrtum kaum vorstellen. Außerdem hatte man von dem Moment an, da er mit seinen langen Haaren, dem Tattoo und dem
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