Das Geheimnis der Schwestern
für eine lange Zeit sein würde. Aber er hatte es gewusst. Ihr fiel wieder ein, was er an diesem Morgen gesagt hatte, ganz leise, in seinem schwarzen Anzug und mit einem unendlich traurigen Blick: Ich liebe dich, Vivi. Das können sie uns nicht nehmen.
Sie hatte gelacht und gesagt: »Das versucht auch niemand. Vertrau mir.«
Vertrau mir.
Jetzt fragte sie sich, ob sie je wieder würde lachen können, und dann, in der Box mit ihrem Pferd, das irgendwie für ihre Kindheit, ihre Mutter und ihr früheres Selbst stand, fing sie an zu weinen.
Dieser Teil des Countys war durch rückläufige Einwohnerzahlen und schwindende Lachsbestände wirtschaftlich stark angeschlagen. In der Innenstadt standen etliche Ladenlokale leer. Ihre zugeklebten Schaufenster erinnerten daran, wie viele Einwohner und Gewerbesteuern die Gemeinde verloren hatte. Verdreckte und verbeulte Pick-ups, viele mit einem Zu verkaufen- Schild an der hinteren Windschutzscheibe, säumten an diesem Donnerstagnachmittag die Straße und parkten vor den Kneipen.
Vivi Ann stand auf dem Bürgersteig und ließ ihren Blick über das graue Gerichtsgebäude wandern. Dahinter erhoben sich vor einem wolkenweißen Himmel die üppig grünen Hügel des Olympic National Forest. Es sah so aus, als würde es jeden Augenblick anfangen zu regnen.
Vivi Ann umklammerte fester ihre Handtasche und ging die steinerne Treppe zu der großen hölzernen Schwingtür hinauf.
Drinnen sah es noch schäbiger aus. Verschrammte Holzdielen, abblätternde Farbe an den Wänden, Menschen in billigen Anzügen oder Kostümen, die die Treppe zu den Gerichtssälen hinaufgingen oder den Flur hinunter zu verschiedenen geschlossenen Türen eilten. Sie trat zur Empfangstheke und sagte verlegen lächelnd zu der gestresst wirkenden Angestellten: »Ich möchte jemanden in Untersuchungshaft besuchen.«
Die Frau sah nicht mal auf. »Name?«
»Vivi Ann Raintree.«
»Nicht Ihrer. Der des Häftlings.«
»Oh. Dallas Raintree.«
Die Frau gab etwas in ihren großen beigefarbenen Computer ein und wartete, dann sagte sie: »Block P. Besuchszeit beginnt um drei und endet um vier.« Sie zeigte mit dem Finger den Flur hinunter. »Zweite Tür rechts.«
»D-danke.« Vivi Ann machte sich auf den langen Weg zum Zellenblock. Als sie endlich dort ankam, wartete bereits eine weitere Empfangsangestellte auf sie.
»Name?«
»Dallas Raintree.«
»Nicht der des Häftlings. Ihrer.«
»Vivi Ann Grey Raintree.«
»Papiere, bitte.«
Vivi Ann zitterten die Hände, als sie ihre Tasche öffnete und den Führerschein aus ihrer Brieftasche zog. Die Angestellte nahm ihn, notierte etwas in einem Verzeichnis und gab ihn ihr zurück.
»Füllen Sie dieses Formular aus.«
Während Vivi Ann es ausfüllte, hörte sie, wie hinter ihr Leute herantraten und sich anstellten. Daraufhin schrieb sie noch schneller. »Hier, bitte«, sagte sie und gab das Formular zurück.
»Da rüber.« Die Angestellte wies, ohne aufzusehen, mit dem Kinn in die entsprechende Richtung. »Legen Sie all Ihre persönlichen Sachen in eins der Schließfächer. Handtasche, Brieftasche, Essen, Kaugummi, Schlüssel etc. Der Metalldetektor ist am Ende des Flurs. Der Nächste.«
Vivi Ann ging den leeren Flur hinunter. Am Ende der stahlgrauen Schließfächer schloss sie ihre Handtasche ein und wandte sich zum Metalldetektor. Dort stand ein großer Wachmann in Uniform, breitbeinig, an jeder Seite eine Waffe im Halfter, beide Hände in Reichweite der Waffen.
Sie gab ihm den Schlüssel fürs Schließfach und trat vorsichtig durch den Metalldetektor. Da sie noch nie geflogen war, sah sie so etwas zum ersten Mal und wusste nicht recht, was sie tun sollte. Zentimeter für Zentimeter bewegte sie sich hindurch. Auf einmal ertönte ein schrilles Piepen. Vivi Anns Herz fing an zu rasen. Sie sah sich um; auf einmal standen drei uniformierte Wachleute bei ihr. »Ich … ich hab nichts dabei.«
Eine Frau in Uniform trat zu ihr. »Hier rüber. Beine auseinander.«
Vivi Ann gehorchte. Obwohl sie wusste, dass sie nichts Verbotenes dabeihatte – es konnte gar nicht sein –, hatte sie doch Angst. Sie spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat.
Die Beamtin fuhr mit einem flachen schwarzen Gerät an ihr auf und ab. Am Verschluss ihres BHs und der Schnalle ihres Schuhs piepte es.
»Alles in Ordnung«, sagte sie. »Hier lang.«
Vivi Ann ging nun zu einem weiteren Schreibtisch, wo ihr ein Stempel auf die Hand gedrückt und ein Schild mit der Aufschrift Besucher um den
Weitere Kostenlose Bücher