Das Geheimnis der Schwestern
Vivi Ann rannte unentwegt zwischen den Boxen und der Arena hin und her. Noah saß entweder auf ihrem Arm oder hielt ihre Hand und bemühte sich nach Kräften, mit ihr mitzuhalten. Natürlich waren auch andere Mütter da. Julie und Brooke und Trayna hatten ebenfalls alle Hände voll damit zu tun, die Mädchen zu frisieren, die Hufe der Pferde zu polieren und ein Halfter zu flicken, das zur Unzeit riss. Samstagabend waren alle staubig, erschöpft und begeistert.
Alle, bis auf Vivi Ann, die nur staubig und erschöpft war.
Sie schloss die Augen und lehnte sich an eine Boxentür hinter sich. Sie freute sich nur noch darauf, nach Hause zu kommen und in ihr leeres Bett zu kriechen. In diesem Sommer hatte sie sich jede Nacht im Schlaf auf die andere Bettseite gerollt und nach Dallas getastet. Sie wusste nicht, was ihr mehr Sorgen bereitete: dass sie es tat oder dass sie irgendwann damit aufhören würde.
Sie seufzte wieder, weil sie sich älter und müder fühlte, als sie es bei einer Neunundzwanzigjährigen für möglich gehalten hätte, und zog dann den Schrankkoffer mit Reit- und Pflegeutensilien zum Wagen.
Sie stand auf dem Behelfsparkplatz, auf dem sich jetzt nur noch ihr eigener Wagen befand, und sah die Lichter und das Riesenrad, das sich blinkend vom schwarzen Horizont abhob. Sie konnte sogar die Musik der Drehorgel hören.
Früher hatte sie die Kirmes geliebt. Aber jetzt sah sie nur noch, dass alle Welt sich vergnügte, obwohl andere litten. Sie sah Ungerechtigkeit, wohin sie auch blickte.
Ihr Leben lang war die Kirmes etwas ganz Besonderes für sie gewesen, eine Zeit, die die Grey-Töchter zusammen verbrachten.
Ihre Schwestern und sie hatten den Abschluss der Kirmes immer zusammen gefeiert und in eine Reise durch ihre gemeinsame Vergangenheit verwandelt. Sie waren die Hauptstraße hinuntergeschlendert, hatten Scones mit selbstgemachter Marmelade und Zuckerwatte gegessen und geredet. Vor allem geredet.
… sieh mal, Aurora, dort hast du doch deinen ersten Kuss bekommen, weißt du noch?
… dieser Quilt sieht genauso aus wie der, den Mom für die Zweihundertjahrfeier gemacht hat, findet ihr nicht?
… apropos Zweihundertjahrfeier, was ist eigentlich mit meiner Bobby-Sherman-Uhr geworden? Ich weiß, eine von euch hat sie geklaut …
Sie wusste, ihre Schwestern waren jetzt dort, aber zum ersten Mal jede für sich allein. Monatelang hatte Winona versucht, sich wieder mit ihr zu versöhnen, aber Vivi Ann hatte jeden erbärmlichen Versuch ignoriert. Sobald sie Winona sah, verspürte sie den heftigen Drang, ihr ins Gesicht zu schlagen.
Jetzt griff sie in ihre Tasche und holte das Beruhigungsmittel hervor, das Richard ihr verschrieben hatte. Diese kleinen Pillen waren in letzter Zeit ihre einzige Rettung. Sie schnippte sich eine in den Mund, schluckte sie herunter und ging dann zum Reitstall, wo Noah in seinem Reisebettchen schlief. Sie nahm ihn auf, presste ihn ein bisschen zu heftig an sich und trug ihn zum Wagen.
Zu Hause angekommen, steckte sie ihn ins Bett und nahm dann ein langes, heißes Bad. In der Wanne weinte sie sich aus, wie so oft in letzter Zeit, und als sie sich danach abtrocknete, war sie so weit wiederhergestellt, dass sie gehen, atmen und leben konnte. Glauben. Das war das Schwerste von allem: daran zu glauben, dass die Berufung Erfolg haben und danach alles wieder in Ordnung sein würde. Jedes Mal wenn das Telefon klingelte, hielt sie die Luft an und dachte: Da, jetzt ist es so weit. Und jeden Tag, an dem kein Anruf kam, schluckte sie eine weitere Pille und machte weiter. Langsam vielleicht, aber sie blieb in Bewegung, und in diesem Cottage, in dem alles sie an Dallas erinnerte, war schon das ein Erfolg.
Sie kletterte ins Bett, nahm zwei Schlaftabletten und wartete auf das süße Vergessen.
Als das Telefon klingelte, kam es ihr so vor, als wäre sie gerade erst eingenickt.
Sie riss sich aus dem fragwürdigen Trost des Schlafs und tastete nach dem Telefon. Als sie es endlich fand, hatte sie sich schon aufgesetzt. »Hallo?«, sagte sie.
»Vivi Ann? Hier spricht Roy.«
Jetzt war sie wach. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es bereits zwanzig vor neun war. Sie hatte schon wieder verschlafen. Die erste Reitstunde fing in zwanzig Minuten an. »Hey, Roy. Was ist los?«
»Das Berufungsgericht hat das Urteil bestätigt.«
Der Schlag war so heftig, dass er ihr die Luft raubte. »Oh nein …«
»Das ist noch kein Grund, die Hoffnung zu verlieren. Ich werde ein Wiederanhörungsgesuch beim
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