Das Geheimnis der Schwestern
Supreme Court in Washington einreichen.«
Vivi Ann bemühte sich, nicht den Mut sinken zu lassen, aber in letzter Zeit schwankte sie ständig zwischen Hoffen und Bangen.
»Ach ja … am Samstag brauchen Sie Dallas nicht zu besuchen.«
»Wieso nicht?«
Roy zögerte kurz. »Als er von dem Bescheid hörte, rastete er ein bisschen aus. Jetzt ist er einen Monat in Einzelhaft.«
»Hat er jemanden verletzt?«
Roy zögerte wieder, und sein Schweigen war Antwort genug.
»Das Ganze bringt ihn um«, sagte sie. Und mich auch.
»Aber Streit zu suchen macht es auch nicht besser.«
Vivi Ann hörte zwar, was Roy sagte, aber sie war in Gedanken im Gefängnis, in der Besucherkabine, wo Dallas in seinem orangefarbenen Overall auf der anderen Seite der Scheibe saß und ihr erzählte, wie sein Alltag aussah. Dass seine Zellentür viermal am Tag automatisch mit einem Summen und Klicken aufging, für die Mahlzeiten und eine Stunde Hofgang. Wie er sich fühlte, vom Hof aus hinauszublicken und durch den Stacheldraht grüne Wiesen zu sehen. Dass die Gefangenen sich strikt an ihre ethnische Gruppe hielten, aber er zu keiner gehörte, weil er ein Mischling war. Dass die »Mädchen« sich so weit auftakelten, wie ihre Overalls es zuließen, um sich Freier zu angeln, die sie beschützten, während die Schläger ständig nach Opfern suchten. Wie man langsam den Glauben daran verlor, jemals wieder die Sterne zu sehen, bei Nacht zu reiten oder seinen eigenen Sohn in den Arm zu nehmen.
»Wird das denn was bringen, Roy?«, fragte sie und hörte gleichzeitig Noahs Stimme über das Babyphon. Wie immer rief er nach seinem Daddy. Gequält schloss sie die Augen. Unwillkürlich fragte sie sich, ob Noah eines Tages seinen Vater vergessen und einfach ohne ihn weitermachen würde. Oder würde er sich immer an ihn erinnern und sich nach einem Mann sehnen, der nie da war?
»Geben Sie noch nicht auf«, sagte Roy.
»Nein, ich gebe nicht auf.«
Sie konnte nicht mal die Möglichkeit in Betracht ziehen, aufzugeben. Es tat zwar weh, den Glauben aufrechtzuerhalten, aber noch schlimmer war es, ihn aufzugeben.
Vivi Ann merkte kaum, wie die Zeit verging. Als der strahlende Sommer des Jahres 1996 langsam in einen kalten, verregneten Herbst überging, bemühte sie sich, wie immer weiterzumachen. Nicht aufzugeben. Aurora kam zwar fast täglich vorbei, damit sie nicht allein war, aber sie konnte ihr auch nicht wirklich helfen. Vivi Ann fühlte sich, als wäre sie in einer kalten Seifenblase gefangen und hinge in der Luft. Jeden Tag wachte sie traurig und allein auf, aber trotzdem stand sie auf und widmete sich ihren täglichen Pflichten. Sie unterrichtete, trainierte Pferde und stellte einen neuen Rancharbeiter ein. Ihre Gedanken flogen ständig zu Dallas und schmerzten, wenn sie kamen und wenn sie gingen. Aber sie biss die Zähne zusammen und minderte nicht ihr Tempo. Und jeden Abend, wenn sie endlich zu Bett ging, betete sie, dass es am nächsten Tag gute Nachrichten über die Berufung geben würde.
Sie wusste, dass sich die Leute Sorgen um sie machten. Sie sah es in ihren verstohlenen Blicken, hörte es an ihrem Geflüster, wenn sie vorbeiging. Früher wären ihr Gerede und ihre Sorge ihr wichtig gewesen. Aber das war vorbei. In den elf Monaten seit Dallas’ Verhaftung hatte sie gelernt, dass Optimismus ein Gefühl war, das sich wie Säure durch alles ätzte. Wenn sie den Glauben und die Hoffnung nicht aufgeben wollte, musste sie sich mit aller Kraft daran klammern. Dann blieb für alles andere nichts mehr übrig.
An einem kalten, trüben Nachmittag Ende November gab sie um sechzehn Uhr ihre letzte Reitstunde, dann fütterte sie die Pferde und ging in ihr Cottage.
Noah spielte dort auf dem Teppich vor dem Kamin mit seinen Ninja-Turtle-Actionfiguren.
Er sah auf und grinste sie breit an. »Mommy«, sagte er und breitete die Arme aus.
Vivi Ann verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Die Wahrheit (die sie niemandem jemals eingestehen würde) war, dass sie den Anblick ihres Sohnes in letzter Zeit kaum noch ertragen konnte. Deshalb bezahlte sie die dreizehnjährige Babysitterin, damit sie an den Nachmittagen auf ihn aufpasste. Jedes Mal wenn Vivi Ann Noah ansah, hätte sie am liebsten geweint.
»Wie war es?«, fragte sie und griff nach ihrer Geldbörse.
»Großartig. Er liebt Tigger.«
Das wusste Vivi Ann nur zu gut. »Sehr schön.«
Durch das Wohnzimmerfenster drang Scheinwerferlicht und erhellte alles für einen Augenblick.
»Meine Mom ist
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