Das Geheimnis der Schwestern
Roy«, beschwor Vivi Ann den Verteidiger. Sie saßen an einem Tisch in dem kleinen Beratungsraum neben dem Gerichtssaal. »Wir können Berufung einlegen. Der Beweis mit den Haaren war doch Humbug, und was heißt es schon, dass auch er Blutgruppe 0 hat? Außerdem kann Myrtle ihn nicht gesehen haben, weil er nicht da war. Das sind alles nur Zufälle. Auf der Waffe waren doch noch andere Fingerabdrücke. Wir gehen doch in Berufung, oder?«
Roy stieß sich von der Wand ab. Er hatte sich so weit von ihnen entfernt, wie es in dem kleinen Zimmer möglich war, um ihnen so viel wie möglich an Privatsphäre zu lassen, bevor Dallas abgeholt wurde. »Nach der Urteilsverkündung werde ich Berufung einlegen. Wahrscheinlich nächsten Monat schon. Wir haben etliche Gründe.«
»Sagen Sie ihr, wie es in der wirklichen Welt zugeht«, bemerkte Dallas.
»Zugegeben, es ist schwer, ein Urteil widerrufen zu lassen. Aber es ist viel zu früh, um aufzugeben«, sagte Roy. Doch Vivi Ann bemerkte schon, dass er müde und geschlagen wirkte.
Sie stand auf und blickte ihren Mann direkt an. Sie wusste, sie musste jetzt stark für ihn sein, doch auch sie spürte ihre Kräfte schwinden. »Mir ist klar, warum es dir schwerfällt, an etwas zu glauben.« Sie betrachtete sein Gesicht und prägte sich jede Einzelheit ein, um sie sich später, wenn sie nachts allein im Bett lag, wieder in Erinnerung rufen zu können. »Aber ich kann an etwas glauben. Also lass es zu. Lehn dich an mich. Ich werde dir zeigen …«
Er trat zu ihr und küsste sie seltsam verhalten. Sie wusste, was das bedeutete. »Gib mir keinen Abschiedskuss«, flüsterte sie.
»Aber dies ist der Abschied, Baby.«
»Nein.«
»Mit dir zusammen zu sein hat meine kühnsten Hoffnungen übertroffen. Das sollst du wissen.«
Ein Klopfen an der Tür zerriss wie ein Schuss die Stille. Roy durchquerte das Zimmer und öffnete.
Aurora stand dort mit Noah, der sofort auf Dallas zeigte und »Dada« rief.
»Ach«, sagte Dallas leise.
Aurora drückte ihm Noah in die Arme. Dallas umklammerte seinen Sohn, presste seine Lippen auf die seidigen schwarzen Haare und atmete tief ein. »Sag ihm, ich hätte ihn geliebt.«
»Das sagst du ihm selbst«, widersprach Vivi Ann und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab. »Wir besuchen dich jeden Samstag, bis du wieder rauskommst.«
Dallas küsste Noah auf die rundliche Wange und zog dann Vivi Ann enger an sich. Einen herzzerreißend vollkommenen Moment waren sie wieder zusammen, nur sie drei, so wie es sein sollte. Dann löste er sich von ihnen.
Er drückte Vivi Ann ihren Sohn in die Arme und sagte: »Ich lasse nicht zu, dass er mich im Gefängnis sieht. Auf keinen Fall. Solltest du ihn mitbringen, werde ich meine Zelle nicht verlassen. Ich weiß, wie es für ein Kind ist, wenn der eigene Vater hinter Gittern sitzt.«
»Aber … wie soll er dich denn kennenlernen?«
»Gar nicht«, erwiderte Dallas und wandte sich zu Roy. »Sagen Sie ihnen, ich sei nun bereit.«
Am liebsten hätte Vivi Ann sich auf ihn gestürzt, sich ihm in den Weg gestellt, sich an ihn geklammert und gebettelt, er solle nicht gehen, aber sie war wie gelähmt. »Dallas«, flüsterte sie, aber sie weinte bereits so heftig, dass sie alles nur noch verschwommen sah. Sie wagte nicht, zu blinzeln, zu atmen oder sich die Tränen wegzuwischen, weil sie befürchtete, bei der kleinsten Bewegung würde er verschwinden. »Ich liebe dich, Dallas«, sagte sie.
»Liebe Dada«, echote Noah und zeigte nickend mit dem Finger auf ihn.
Da brach Dallas zusammen. Vivi Ann sah es so deutlich, als wäre sein Arm oder sein Rückgrat gebrochen. »Bring mich hier raus, Roy«, bat er.
Und dann war er fort.
Den restlichen Sommer besuchte Vivi Ann Dallas jeden Samstag im Gefängnis. Ansonsten arbeitete sie die ganze Zeit auf der Ranch. Sie sprach weiterhin nicht mit ihrem Vater; wenn sie etwas brauchte, hinterließ sie eine Liste im Reitstall.
Heute war der letzte Abend des alljährlichen Stadtfestes. Die letzten Tage war sie in der vertrauten Routine aufgegangen. Ihre Jugendgruppe hatte in diesem Jahr zwölf Mitglieder zwischen elf und fünfzehn. Von dem Moment an, da Vivi Ann mit Wagen und Anhänger auf dem gemähten Rasen zwischen den Ställen geparkt hatte, war sie ständig in Bewegung. Es brauchte fast übermenschliche Anstrengungen, um die Mädchen – vor allem die jüngeren – in Schach zu halten, damit sie rechtzeitig umgezogen, aufs Pferd gestiegen und für ihre Vorführung bereit waren.
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