Das Geheimnis der Schwestern
beobachtete, wie ihre Schwestern an ihr vorbeigingen.
Die letzten Tage hatten ihren Tribut von Vivi Ann gefordert; langsam ging sie den Gang hinunter und hatte keine Kraft mehr, ihre Angst und Erschöpfung zu verbergen. Ihre sonst so gepflegten, glänzenden Haare hingen jetzt stumpf und kraftlos herunter. Da sie sich auch nicht mehr schminkte, wirkte ihr Gesicht blass und kränklich. Im Kontrast dazu leuchteten ihre Augen irritierend grün.
Winona drängte es, zu Vivi Ann zu gehen und ihr zu helfen, aber sie war dort nicht willkommen.
Dann betrat die Richterin den Saal und ließ sich am Richtertisch nieder. Kaum hatten auch die Geschworenen ihre Plätze eingenommen, begann der Prozess.
»Die Staatsanwaltschaft ruft Myrtle Michaelian auf.«
Daraufhin brandete so lautes Raunen durch den Saal, dass die Richterin um Ruhe bitten musste. Winona war genauso überrascht wie alle anderen. Sie war überzeugt gewesen, dass nur einer der zwielichtigen Stammgäste in Cats Haus der Kronzeuge sein konnte.
Myrtle betrat mit bemüht selbstbewusster Miene den Gerichtssaal, wirkte jedoch dadurch nur noch eingeschüchterter. Sie schwitzte so, dass ihre Haare bereits feucht waren. Mit ihrem geblümten Polyester-Kleid sah sie aus wie eine alte Jungfer.
»Nennen Sie für das Protokoll Ihren Namen.«
»Myrtle Ann Michaelian.«
»Adresse?«
»Mountain Vista Drive 178 in Oyster Shores.«
»Womit verdienen Sie sich Ihren Lebensunterhalt, Mrs Michaelian?«
»Meine Eltern eröffneten 1942 das Blue Plate Diner. Ich übernahm es 1976. 1990 haben mein Mann und ich dann noch den Ice Cream Shop eröffnet. Der befindet sich am unteren Ende des Shore Drive.«
»Befindet sich der Ice Cream Shop in der Nähe von Catherine Morgans Haus?«
»Ja, man geht nur weiter den Weg hinunter. Um zu ihr zu kommen, muss man direkt an uns vorbei.«
»Bitte sprechen Sie lauter, Mrs Michaelian.«
»Oh. Ja. Verzeihung.«
»Haben Sie letztes Jahr an Heiligabend in Ihrer Eisdiele gearbeitet?«
»Ja. Ich wollte eine besondere Eistorte für die Abendmesse machen. Wie üblich war ich spät dran.«
Die Zuschauer auf der Galerie nickten lächelnd. Myrtle war berüchtigt dafür, dass sie ständig zu spät kam.
»War an diesem Abend in Oyster Shores viel los?«
»Aber nein! Um halb acht waren alle in der Kirche. Wie ich schon erwähnte, war ich spät dran.«
»Haben Sie an diesem Abend irgendjemanden gesehen?«
Myrtle warf Vivi Ann einen traurigen Blick zu. »Es war gegen zehn nach acht. Ich wollte in Kürze aufbrechen, musste aber noch die Glasur fertig machen. Da blickte ich auf und sah … sah Dallas Raintree auf dem Weg auftauchen, der zu Cats Haus führt.«
»Hat er Sie gesehen?«
»Nein«, antwortete Myrtle mit unglücklicher Miene.
»Woher wussten Sie, dass es der Angeklagte war?«
»Ich sah ihn von der Seite, als er an einer Straßenlaterne vorbeiging, und erkannte seine Tätowierung. Aber ich wusste schon vorher, dass er es war, denn ich hatte ihn schon früher dort abends gesehen. Etliche Male. Das hatte ich auch Vivi Ann erzählt. Er war es. Tut mir leid, Vivi Ann.«
»Keine weiteren Fragen«, sagte Miss Hamm.
Daraufhin erhob sich Roy von seinem Platz und fragte Myrtle, ob sie gut sehen könne (nein, nicht besonders), ob sie an diesem Abend ihre Brille getragen habe (nein) und ob Dallas direkt zu ihr geblickt habe. Dann gab er mehrere wesentliche Punkte zu bedenken: Der Mann hatte nicht in ihre Richtung geblickt; sein Gesicht war teilweise von einem Cowboyhut verdeckt gewesen. Bekanntermaßen hatten viele Männer Cats Haus aufgesucht und das auch abends und nachts. Jeans und weißer Cowboyhut waren hierzulande kaum besondere Kennzeichen.
Aber Winona sah, dass nichts davon die Geschworenen interessierte. Myrtles Aussage hatte den Ausschlag gegeben: Sie hatte behauptet, Dallas sei am fraglichen Abend am Tatort gewesen, obwohl er seiner Frau erzählt hatte, er hätte mit Fieber im Bett gelegen. Niemand im Gerichtssaal glaubte, dass Myrtle log. Denn als sie als Zeugin entlassen wurde, weinte sie und entschuldigte sich direkt bei Vivi Ann.
Der Prozess dauerte noch zwei weitere Tage, aber alle wussten, dass er sich dem Ende näherte. Dallas wurde nicht einmal in den Zeugenstand gerufen.
In der letzten Maiwoche hielt die Verteidigung ihr Plädoyer und übergab den Fall an die Geschworenen.
Sie berieten sich vier Stunden und befanden Dallas für schuldig. Er wurde zu lebenslanger Haft ohne Bewährung verurteilt.
Sechzehn
»Sagen Sie es ihm,
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