Das Geheimnis der Schwestern
Hilfe, verstehst du das nicht? Ich bin nur eine kleine Provinzanwältin. Mit Strafprozessen beim Appellationsgericht kenne ich mich nicht aus.«
Aurora sah sie unverwandt und tief betrübt an. »Du bist diejenige, die es nicht versteht, Win. Wir sind Schwestern. Zumindest waren wir das.« Damit stellte sie ihre halbleere Margarita auf die Theke und verließ das Outlaw.
Winona blieb in der dunklen verrauchten Bar zurück und fühlte sich trotz der vielen Freunde und Bekannten um sie herum allein.
Winona und ihr Vater verbrachten Heiligabend zusammen. Sie fuhr früh zum Farmhaus und schmückte alles allein. Sie stieg auf den Dachboden und trug die alten, ramponierten Pappkartons mit der Aufschrift Weihnachten hinunter.
Im Wohnzimmer war es still. Früher hatten die Schwestern gemeinsam geschmückt; sie hatten dabei Wein getrunken und lachend darüber gestritten, welchen Weihnachtsfilm sie ansehen wollten. Kein Wunder, dass Winona das Schmücken bis zur letzten Minute aufgeschoben hatte. Sie hatte gewusst, wie es sich anfühlen würde.
Dennoch weigerte sie sich, auf die Tradition zu verzichten, und schmückte das gesamte Haus, bis alle Kartons leer waren. Sie wickelte frisch geschnittene Zedernzweige um das Treppengeländer und band sie mit Goldkordel fest. Sie stellte Miniaturszenen von Weihnachten auf dem Kaminsims auf: Kunstschnee, Fassaden von Ladenzeilen und winzige Figuren mit Schlitten und Kutschen. Als Kind war es ihre größte Freude gewesen, einen winzigen ovalen Spiegel auf den Kunstschnee zu legen, der eine kleine Eisfläche zum Schlittschuhlaufen darstellen sollte. Sie drei hatten sich immer um dieses Privileg gestritten.
Winona verdrängte den Gedanken daran und schenkte sich noch ein Glas Wein ein. Dann stellte sie das Essen auf den Herd und schnitt sich ein großes Stück Kuchen ab.
In den letzten Monaten hatte sie sich immer mit Essen getröstet. Wenn sie deprimiert war, ging sie zum Kühlschrank. Jetzt lagerten dort ungefähr zehn Dutzend Cookies in Tupperdosen. Seit Dallas’ Verhaftung hatte sie mindestens fünfzehn Pfund zugenommen.
Auch daran nicht denken.
Sie ging ins Arbeitszimmer, um ihren Dad zu holen. Er stand mit einem Drink in der Hand am Fenster und starrte auf den Hood Canal. An diesem kalten Dezemberabend zeigte sich die Landschaft streng und kontrastreich: purpurfarbene Berge mit rosafarbenem Schnee, stahlblaues Wasser, graues Ufer. Die wenigen Anleger, die man sehen konnte, waren mit schlafenden Seerobben bevölkert. Möwen hockten, aufgereiht wie Kegel mit gelbem Schnabel, auf den Geländern.
»Hey, Dad«, sagte sie und trat zu ihm.
»Hey«, erwiderte er, ohne sich nach ihr umzusehen.
Sie überlegte, was sie sagen sollte, als das Telefon klingelte. Dankbar für die Unterbrechung, verkündete sie: »Ich geh schon«, und rannte zum Telefon in der Küche. »Hallo?«, meldete sie sich, leicht außer Atem.
»Fröhliche Weihnachten«, sagte Luke.
»Luke!«, rief sie und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Sie ging zum Küchentisch, zog das lange Kabel hinter sich her, nahm Platz und legte die Füße hoch. »Wie läuft’s in Montana?«
Sie redeten nicht so unbefangen miteinander wie früher. Immer wieder trat längeres Schweigen ein, in dem Ungesagtes an die Oberfläche zu kommen drohte. Aber er erzählte von dem Haus, das er sich ein paar Wochen zuvor gekauft hatte, und von seinem neuen Partner. Sie revanchierte sich mit einer witzigen Schilderung der letzten Verabredung mit Ken Otter und meinte, mit einem dreifach geschiedenen Zahnarzt auszugehen sei genau, wie sie erwartet habe. »Aber immer noch besser, als allein zu sein.«
Nach kurzem Schweigen fragte er: »Wie geht es ihr?«
»Hast du deshalb angerufen? Um dich nach Vivi Ann zu erkundigen?«
»Nein, um mich nach dir zu erkundigen«, gab er zurück. »Ich weiß, wie sehr du darunter leiden musst, mit ihr zerstritten zu sein. Hör auf zu warten, raff dich auf und nimm es selbst in die Hand. Geh einfach zu ihr, klopf an und sag, es tut dir leid.«
»Könnten wir bitte das Thema wechseln?«, sagte Winona. Daraufhin unterhielten sie sich über alles Mögliche, bis ihnen nach einer Stunde die Themen ausgingen. Dann sagte er: »Tja. Ich wollte nur ›Fröhliche Weihnachten‹ wünschen.«
»Dir auch, Luke«, erwiderte sie und legte auf.
Doch als sie sich vom Telefon entfernte, klangen seine Worte in ihr nach. Aurora und Richard waren mit den Kindern zum Skilaufen gefahren, wahrscheinlich weil sie vor dem traurigen
Weitere Kostenlose Bücher