Das Geheimnis der Schwestern
Dallas’ scharfe Züge wirkten jetzt eingefallen und verhärmt. Die Adern und Sehnen an seinem Hals sahen aus wie Baumwurzeln dicht unter der Erdoberfläche.
Aber die Zeit hatte auch bei Vivi Ann ihre Spuren hinterlassen; sie sah die Veränderungen jeden Morgen im Spiegel. Selbst ihre Haare waren stumpf und strähnig, weil sie sie nicht pflegte und kaum zum Friseur ging. Sie war zwar erst zweiunddreißig, sah aber zehn Jahre älter aus.
»Es ist schwer«, sagte sie leise.
»Nimmst du immer noch Tabletten?«
»Nur noch selten.«
»Du lügst ja.«
Sie sah ihn an, und ihre Liebe zu ihm war ein Schmerz in der Brust. »Wie kommst du damit zurecht?«
Er lehnte sich zurück. Sie gaben nur selten alle Verstellung auf und wagten den gefährlichen Schritt in die Realität. »Beim Hofgang suche ich mir einen Platz, wo sonst keiner ist, und schließe die Augen. Wenn ich Glück habe, hören sich die Geräusche wie Hufgetrappel an.«
»Renegade«, sagte sie.
»Ich weiß noch, wie es war, nachts auf ihm zu reiten … in jener Nacht.«
Ihre Blicke trafen sich; ihre Erinnerungen erwachten zum Leben und elektrisierten sie. »Das war unser erstes Mal …«
»Wie stehst du es denn durch?«
Mit Pillen. Und Alkohol. Sie wandte den Blick ab und hoffte, es fiele ihm nicht auf. »Draußen auf der Veranda habe ich eins der Windspiele, die meine Mom gemacht hat. Wenn sie krank war, gab sie mir eins und sagte, wenn ich genau hinhörte, könnte ich ihre Stimme hören. Das habe ich dann getan. Und jetzt tue ich es auch.« Sie blickte ihn wieder an. »Aber jetzt höre ich dich auch. Manchmal sehne ich mich nach dem Wind …«
Sie verstummte. Das war das Gefährliche an Erinnerungen; sie waren wie Stromkabel. Am besten wahrte man sicheren Abstand.
»Hast du was von Roy gehört?«, fragte sie.
»Nein.«
»Aber bald«, erklärte sie und bemühte sich, selbst daran zu glauben. »Das Bundesgericht wird deinen Fall prüfen. Du wirst sehen.«
»Klar«, sagte er. Dann stand er auf. »Ich muss los.«
Sie sah zu, wie er den Hörer auflegte und zurücktrat.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
Er erwiderte lautlos, dass auch er sie liebe, und dann ging er. Laut klackend fiel die Tür hinter ihm zu.
Sie blieb sitzen und starrte so lange auf seine leere Kabine, bis eine Frau kam und ihr auf die Schulter tippte.
Vivi Ann murmelte eine Entschuldigung, stand auf und ging.
Die Heimfahrt kam ihr länger vor als sonst. Während sie eine Meile nach der anderen zurücklegte, bemühte sie sich, ruhig zu bleiben. Es gab so vieles, an das sie in letzter Zeit nicht denken durfte. Und die Angst konnte sie nur zurückdrängen, wenn sie sich wirklich stark konzentrierte. Zumindest am Tag. Die Nächte waren die Hölle; selbst mit einer doppelten Dosis Tabletten konnte sie sie manchmal kaum durchstehen.
In der Stadt angekommen, nahm sie den Fuß vom Gas und fuhr langsamer. Überall um sich herum sah sie Anzeichen, dass das Leben weiterging, während sie selbst im schwarzgrauen Vakuum des Strafvollzugsystems gefangen war. Die Bäume auf der Main Street zeigten ihr farbenprächtigstes Herbstkleid; schon fielen die ersten Blätter. Der Laden mit Reitbedarf warb für seinen jährlichen Ausverkauf, und das Schaufenster des Drugstores war voller Kürbisse und Gespenster.
Süßes oder Saures, Mrs Raintree?
Sie zuckte zusammen und gab wieder Gas. Der alte Truck heulte auf und schoss vorwärts.
An der Ranch parkte sie zwischen den Bäumen und sah auf ihre Uhr. Es war drei Uhr. Damit hatte sie noch eine Stunde, um die Pferde zu füttern, bevor sie Noah von Aurora abholte.
Noah.
Noch eine Wahrheit, der sie sich nicht stellen wollte. Sie wurde eine schlechte Mutter. Sie liebte ihren Sohn über alles, aber jedes Mal wenn sie ihn ansah, schien ihr Herz ein bisschen mehr zu brechen.
Das musste sie ändern. Morgen würde sie mit den Beruhigungsmitteln aufhören und sich wieder dem Leben zuwenden. Es musste sein, ob sie wollte oder nicht.
Gestärkt durch diesen Vorsatz (den sie schon mehrfach gefasst hatte, aber dieses Mal meinte sie es ernst; dieses Mal würde sie ihn wirklich in die Tat umsetzen), ging sie zum Offenstall, wo ein Wochenvorrat Futter lagerte. Sie ging hinein, nahm die Schubkarren und füllte sie mit Heu.
Im Reitstall machte sie Licht, dann ging sie von Box zu Box und fütterte die Pferde. Hier fand sie einen gewissen Frieden, und als sie Clems Box entriegelte, lächelte sie fast.
»Hey, mein Mädchen, hast du mich vermisst?«
Aber sie hörte
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