Das Geheimnis der Schwestern
war dabei ihr Anker, ihre stützende Hand. Aber wenn sie abends allein war, trank sie immer noch zu viel und klammerte sich zu sehr an ihren Sohn oder ließ ihn völlig links liegen. Manchmal saß sie einfach nur da, wiegte sich zu der Musik in ihrem Kopf, versuchte sich zu erinnern, wie es war, Dallas zu berühren, ihn zu umarmen – während irgendwo im Hintergrund Noah nach ihr rief oder weinte. Ihre Erinnerungen verblassten allmählich, und ohne sie konnte sie sich nicht mehr gegen ihre Benommenheit wehren. Also gab sie auf, streckte sich auf dem Sofa aus und fiel in einen tiefen, dumpfen Schlaf.
Sie verpasste einiges wegen ihrer Samstagsbesuche: Noahs erste Fahrt auf dem Dreirad, seine Weihnachtsfeier im Kindergarten, sogar seinen vierten Geburtstag. Sie redete sich zwar ein, er sei zu jung, um zu merken, dass sein Geburtstag gar nicht am Sonntag war. Doch als sie sah, wie Aurora sie bei dieser Gelegenheit voller Mitleid anblickte, musste sie sich abwenden. Als am Abend alles abgeschmückt und im Mülleimer entsorgt war, trank sie so viel Tequila, dass sie am nächsten Morgen ihre Reitstunden verschlief.
Jetzt war es Oktober 1999, ein Samstag. Fast vier Jahre nach Dallas’ Inhaftierung.
Vivi Ann saß in ihrem Wagen auf dem Gefängnisparkplatz und starrte durch die Windschutzscheibe auf die grauen Mauern. Der Regen prasselte so heftig gegen die Scheiben, dass es fast wirkte, als würden sie sich bewegen. Trotzdem konnte sie, wenn auch undeutlich, den wuchtigen Bau des Hochsicherheitsgefängnisses sehen. Sie hatte ihn schon bei allen möglichen Wetterlagen gesehen, und selbst im Sommer, vor blauem Himmel und grüner Landschaft, wirkte er grimmig und bedrohlich. Jetzt im Regen sah er trist und verlassen aus, so als ducke er sich vor den dahinterliegenden Hügeln, anstatt trotzig emporzuragen.
Wie ferngesteuert ließ sie die Anmelderoutine über sich ergehen und bemerkte kaum noch, wie einschüchternd alles um sie herum war. In letzter Zeit nahm sie eigentlich nur noch den Lärm wahr: das Knallen der Türen, das Klicken der Schlösser, das ferne Dröhnen lauter Stimmen.
Sie nahm ihren üblichen Platz in der Kabine ganz links ein und wartete.
»Hey, Vivi«, sagte Dallas, als er sich ihr gegenüber hinsetzte.
Da endlich lächelte sie. Trotz ihrer Apathie, mit der sie sich durch die Tage schleppte, konnte sie nicht leugnen, dass sie sich hier, bei ihm, lebendig fühlte. So verrückt es auch war, sie freute sich, ihn zu sehen, auch wenn sie sich nicht berühren konnten. Sie sagte seinen Namen, der für sie fast schon ein Gebet geworden war. Dann holte sie das neueste Foto von Noah aus der Tasche. Es zeigte einen munteren, aufgeweckten Sechsjährigen mit Baseballkappe, der grinsend einen Schläger in die Höhe hielt.
Dallas starrte darauf und streckte die Hand aus, als wäre dieses eine Mal nicht die Scheibe zwischen ihnen.
Vivi Ann wusste, dass er jetzt einen Jungen sah, nicht mehr ein Baby. Die Jahre von Dallas’ Haft ließen sich auch an Noahs Entwicklung ablesen. Er war jetzt größer und dünner, verlor schnell alles Kindliche. Und er fragte nicht mehr nach seinem Daddy. Er erinnerte sich nicht mehr an ihn.
»Er vermisst dich«, sagte Vivi Ann.
»Hör auf damit«, entgegnete Dallas. »Uns ist nicht viel geblieben. Da wollen wir doch wenigstens ehrlich zueinander sein.«
Sie hätte es wissen müssen. Zwar waren sie jetzt durch Stacheldraht, Beton und Plexiglas getrennt, aber innerlich waren sie so fest verbunden wie eh und je. »Wenn du mir nur erlauben würdest, ihn mitzubringen.«
»Das hatten wir doch schon. Er soll mich nicht so sehen. Es ist besser, wenn er mich vergisst.«
»Sag das doch nicht.«
Danach sagten sie nichts mehr. Mit dem Hörer in der Hand sahen sie sich wortlos durch das schmutzige Plexiglas an. Sie wusste nicht, wie lange sie so dasaßen, aber schließlich unterbrach das Signal, das das nahe Ende der Besuchszeit anzeigte, ihr Schweigen. Sie zuckte zusammen.
»Du siehst müde aus«, sagte Dallas. Am liebsten hätte sie so getan, als wüsste sie nicht, wovon er sprach, hätte wieder gelogen – diesmal mit einem verwirrten Lächeln, doch sie wusste, dass er die Wahrheit in ihrem Gesicht und in ihren müden Augen sah. In den langen Jahren seiner Haft war es immer schwerer für sie geworden, so zu tun, als gäbe es noch eine gemeinsame Zukunft für sie. Sie beide hatten Gewicht verloren; letzten Monat hatte Roy behauptet, sie sähen aus wie ein Paar wandelnder Skelette.
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