Das Geheimnis der Schwestern
Weihnachtsfest in Water’s Edge fliehen wollten. Daher wusste Winona, dass Vivi Ann und Noah oben in dem Cottage allein waren.
Konnte sie wirklich einfach zum Cottage gehen und die Uhr zurückdrehen? Sie versuchte, es ganz sachlich zu durchdenken, aber eigentlich war es bereits mit dem ersten Gedanken daran entschieden. Sie spürte, wie sich Sehnsucht in ihrem Herzen rührte, und schnappte sich ihren Mantel von der Garderobe an der Haustür. Dann machte sie sich auf den Weg zu Vivi Anns Cottage, umrundete vorsichtig die Pfützen auf dem Schotterweg und klopfte schließlich an ihre Tür.
Vivi Ann öffnete sofort. Sie sah schrecklich aus. Ihre Haare waren zerzaust, als hätte sie sich ständig den Kopf gekratzt, und ihr Gesicht war fleckig und rot. Ihre Augen tränten und hatten blutunterlaufene Ränder. Und sie wankte, als hätte sie getrunken. »Was willst du?«
Winona verschlug es beim Anblick ihrer Schwester kurz die Sprache. »Ich … ich wollte reden. Ich weiß, du bist wütend auf mich, aber es ist Heiligabend, und ich dachte …«
»Willst du deinen Triumph auskosten? Du weißt doch, dass sein Berufungsgesuch abgelehnt wurde.«
»Das tut mir leid.«
»Es tut dir leid? Glaubst du, das interessiert mich?« Schwankend trat Vivi Ann auf sie zu. »Du hast jeden Tag im Gerichtssaal gesessen und dir die sogenannte Beweisaufnahme angehört. Winona, meine angeblich so brillante Schwester. Hast du auch nur einen der Beweise angezweifelt? Er war krank an Heiligabend. Ich hab bei ihm Fieber gemessen.«
»Glaubst du, Myrtle hat gelogen?«
»Ich glaube, sie hat sich geirrt. Anders kann es gar nicht sein, und die Sache mit den Haarspuren war auch Mist. Nicht mal du kannst glauben, dass Dallas mit Cat gevögelt hat, während er mit mir verheiratet war.« Vivi Anns Augen waren glasig und wirkten leicht irre. Winona spürte, wie Angst in ihr aufkam. Irgendwas stimmte hier nicht.
Im Haus fing Noah an zu weinen.
»Los, sag schon«, fauchte Vivi Ann. »Glaubst du, dass er mit Cat gevögelt hat? Du hast uns doch zusammen gesehen.«
Winona bemerkte, wie verzweifelt Vivi Ann sich bemühte, sie zu überzeugen. Sie wusste, wenn sie nur zustimmte, würden sie sich vielleicht wieder versöhnen können.
Aber wenn man jemanden liebte, musste man manchmal stark sein und etwas sagen, was der andere nicht gern hörte. Es war offensichtlich, dass Vivi Ann zusammenbrach. Den Bezug zur Wirklichkeit verlor. Winona mochte sich im Strafrecht nicht auskennen, aber sie wusste, dass es nicht gut war, an Wunder zu glauben.
Sie trat auf ihre Schwester zu. Vivi Ann sah aus wie eins ihrer schreckhaften misshandelten Pferde: verstört und flucht bereit. »Du richtest dich zugrunde, Vivi«, sagte sie, so sanft sie konnte. »Wenn du an etwas glaubst, das niemals eintreffen wird.«
»Er wird freikommen.«
»Ich habe in diesem Gerichtssaal gesessen, und ich habe gesehen, was du ignorieren willst. Er –«
»Sag es nicht, Win.«
»Du weißt es doch, Vivi. Du musst es wissen. Er ist schuldig. Du musst –«
Vivi Ann schlug ihr so heftig ins Gesicht, dass sie zurücktaumelte. »Verschwinde aus meinem Haus. Ich will nichts mehr von dir hören. Nie wieder.«
Siebzehn
Langsam vergingen die Jahre.
1997.
1998.
1999.
Aurora unternahm mehrfach Anläufe, die Familie wieder zusammenzubringen, aber in Vivi Anns verdorrtem Herzen war kein Platz für Vergebung. Und sie wollte auch keinen Platz schaffen. Ihr Vater und Winona hatten sie zu sehr verletzt. Jeden Samstag brachte Vivi Ann ihren Sohn zu Aurora und fuhr dann zweieinhalb Stunden zum Gefängnis, um hinter einer schmutzigen Plexiglasscheibe durch ein schweres schwarzes Telefon mit Dallas sprechen zu können. Roy machte eine Eingabe nach der nächsten, die jedes Mal abgeschmettert wurde. Vivi Ann kam sich vor, als wäre sie an eine tückische Wippe gefesselt, und büßte bei jedem Hoch und Tief ein weiteres Stückchen ihrer Seele ein. Schließlich rief Roy an, um ihr mitzuteilen, dass ihr Gesuch auch beim Obersten Gerichtshof des Staates Washington abgelehnt worden war, doch er fügte rasch hinzu: »Keine Sorge, jetzt ziehen wir vors Bundesgericht.« Wieder versuchte sie, ihren Glauben aufrechtzuerhalten, und die Monate verstrichen.
Ihre einzige Möglichkeit, zu überleben, sah sie darin, alles andere in ihrem Innern zu betäuben. Jeden Tag warf sie sich Beruhigungstabletten wie Kaugummis ein, damit sie weitermachen, lächeln, sprechen und so tun konnte, als wäre alles ganz normal. Aurora
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