Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
nur dem Denken öffnen. An diese Pforten habe ich zu klopfen versucht, und einige haben sich mir aufgetan.
Zuerst ermittelte ich, daß viele Gedichte unserer lyrischen Neutöner sich »umkehren« lassen, also ein experimentum crucis vertragen, das die Dichtungen ehemaliger Lyriker von Anakreon angefangen bis zu Goethe, Mörike, Heine, Eichendorff in keiner Weise bestehen können. Ich mag die Beispiele, die ich dafür an anderer Stelle mitgeteilt habe, hier nicht wiederholen. Genug: es geht. Man kann eine Reihe der besten Neudichtungen strophenweis, ja versweis umkehren, umstülpen, Zeile für Zeile rückwärts lesen, und sie bewahren vollkommen den Sinn ihres Inhalts, eines Inhalts, dessen Schönheit und Bedeutung mir zwar entgeht, der aber jedenfalls, da es sich um bekannte und berühmte Dichter handelt, vorhanden sein muß.
Daß dies möglich ist, kann nur auf einer ungeheuren Sprachmeisterschaft beruhen. Diese studiere man an den leichtzugänglichen Urbildern, die sich in sich selbst spiegeln und in der Spiegelung ungeahnte Reize entfalten. Intuitives offenbart sich hier, aus seelischen Erregungen der Meister, denen ein Gott nicht nur gab, zu sagen, was sie leiden, sondern es zweimal zu sagen: im Urton und im Spiegelton. Das wahre Kennzeichen des Genies, die Naivität des Schaffens, feiert hier einen schönen Triumph: ein Gedoppeltes entsteht, während der Dichter oder die Dichterin glaubte, ein einfaches ausgesprochen zu haben. Und als Nebengewinn ergibt sich noch eine in unseren Zeiten sehr hoch zu schätzende Ersparnis an Papier, da jedes umkehrbare, von rückwärts lesbare Gedicht nur die Hälfte des Platzes beansprucht, das ihm nach den Satzungen Apolls und von Rechtes wegen eigentlich gebührte.
Wenn es eines Beweises bedürfte, daß Sprachkunst die Tonkunst zu überflügeln vermag, die Verfasser der modernen Vor- und Rückwärtsgedichte hätten ihn erbracht. Im ganzen Bereich der Musik von Palestrina bis zu Korngold gibt es keine sinnige Tonfolge, keine Melodie, die solchem Experiment gewachsen wäre. Das umgekehrt-akustische Bild wird immer sinnlos. Anders im wortmelodiösen Gefüge, wo über einer grundsätzlich veränderten Wortfolge die poetische Empfindung in unverbrüchlicher Einheit schwebt. Eine solche Dichtung besitzt sozusagen eine Dimension mehr als selbst die besten aus klassischer und romantischer Zeit. Keinem meiner Leser will ich die Genugtuung stören, durch eigenes Nachforschen in modernen Gedichtbändchen und Sturm-Heftchen die Proben solchen spiegelbildnerischen Schaffens zu erhalten. Stöbert, so werdet ihr sie finden, die Kleinodien einer Lyrik mit Rücklauf und Rückprämie; und bei jedem einzelnen Funde wird es euch zur Gewißheit werden: es ist eine Lust, das erlebt zu haben!
Ihr werdet aber noch mehr finden, nämlich Sprachformen, die gar nicht auf den Spiegel zu warten brauchen, sondern schon im ersten Auftreten und aus eigenem Vermögen das Ohr mit Zauber umschmeicheln und dabei den Verstand überrennen. Und so scheint es sich ja zu bestätigen, daß in der neuen Lyrik die in deutscher Prosa so mißhandelte Sprache nicht nur ein Asyl, sondern die ihr zukommende Prachtstätte gefunden hat.
Diese Schlußfolgerung stammt allerdings nicht von mir, sie enthält vielmehr nur die Meinung gewisser Sprachpäpste, die hier, soweit es die Dinge nur irgend gestatten, Recht bekommen sollen.
Denn das Wort ist der Urgrund und der Grundbestand der Sprachmeisterschaft. Also sehen wir zu, welche Worte wir aus der Neulyrik gewinnen können, zum Ersatz für die verdammten Welschereien wie Interesse, objektiv, Element und tausend andere, wenn wir diese erst glücklich aus unserem Sprachkasten herausgeworfen haben.
Ich schlage das Werk auf eines der Angesehensten, den »Sternhellen Weg« von Theodor Däubler . Das ist ein Heftchen von erfreulicher Schmächtigkeit, nicht beschwert mit Element, Pathos, Phantasie, auch nicht mit Interesse, Genie, Originalität und ähnlichen fremdbrockigen Ludereien. Da es aber die echteste, die höchstgesteigerte – um nicht zu sagen: sublimste – Poesie enthält, wie die Kenner behaupten, denen ich unbedingt vertraue, so wird es zweifellos Zeugnis ablegen von sprachschöpferischer Kraft; es wird sich uns Verschlammten als ein Jungbrunnen öffnen, in dem wir wenigstens einen Teil unserer scheußlichen Welschkruste erweichen und abbaden können, um mit gereinigtem, verjüngtem Sprachbewußtsein daraus hervorzusteigen.
Da wird in einem Gedicht »Der stumme
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