Das Geheimnis der toten Vögel
keiner weiß, wer sterben wird. Und er weiß fast alles. Aber wer leben wird und wer stirbt, das weiß er nicht.«
Maria ließ sich auf der anderen Seite der Glaswand nieder und nahm das Telefon, um mit Jonatan Eriksson zu sprechen. Eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme, wie sie annahm. Auch wenn der Arzt erzählt hatte, seine Untersuchungsergebnisse würden zeigen, dass er momentan keine Infektion in sich trug, lebte er doch die ganze Zeit mit dem Risiko, bei seiner Arbeit angesteckt zu werden. Deshalb hatte er sich dafür entschieden, weiterhin im Sanatorium zu wohnen. Er sah unendlich müde und traurig aus, obwohl er ganz tapfer versuchte, aufmerksam zu wirken. Die Augenlider sanken ihm langsam zu, während er sich Marias Befürchtungen anhörte, dann erwachte er mit einem Ruck und riss sich zusammen, als er antworten sollte. Es war sicher nur eines von vielen, vielen schweren Gesprächen an diesem Tag.
»Ich will die Wahrheit wissen. Wie schlimm steht es? Was denken Sie über Emil?«
Jonatan trocknete sich den Schweiß von der Stirn und sah sie mit einem Blick an, der so voller Leiden und Resignation war, dass sie zusammenschrak.
»Es gibt ein genehmigtes Medikament, Tamivir, das helfen kann. Aber wir können es nicht innerhalb der erforderlichen Zeit beschaffen. Åsa Gahnström hat Kontakt zu dem Hersteller aufgenommen und versucht, eine Vereinbarung mit ihm zu treffen, aber die sagen, sie hätten ihr Patent und ihre ganze Produktion verkauft und nichts mehr am Lager. Als es keine Epidemie gab, haben sie Pleite gemacht, und sie hatten alles investiert. Jetzt versuchen wir rauszukriegen, wohin die Medikamente gegangen sind.«
»Das kann doch nicht wahr sein! Aber Emil …«
»Es gibt keine nächste Dosis für ihn. Nichts, was wirkt. So schlimm steht es. Dennoch gehört er zu den Glücklichen, denn es scheint, als nähme seine Grippe einen milderen Verlauf. Ich glaube, Emils Chancen, gesund zu werden, sind gut. Aber es gibt andere …«
»Entschuldigen Sie. Ich sehe, dass Sie völlig abgearbeitet sind, und ich kann ahnen, wie höllisch es für Sie ist. Gibt es etwas, was ich für Sie tun könnte? Ich habe den Eindruck, als würden Sie rund um die Uhr arbeiten. Kann ich Ihnen mit irgendwas helfen?«
Er sah sie forschend an. Rang mit sich. »Sie sind doch Polizistin.«
»Ja.« Maria wusste nicht, worauf er hinauswollte.
»Ich kann kaum glauben, dass ich Sie um das Folgende bitte, aber ich sehe keinen anderen Ausweg.« Er zögerte kurz und holte dann geräuschvoll Luft, ehe er weitersprach. »Meine Frau ist Alkoholikerin. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich dieses Wort auf sie anwende, aber so ist es.«
Er wartete eine Reaktion von Maria ab. Was er eben offenbart hatte, war das tiefste Geheimnis seines Lebens und sein größtes Scheitern. Warum saß sie einfach da und sah ihn freundlich an, wo doch die Erde sich gerade auftat?
Er fuhr fort. »Ich habe einen Sohn, der Malte heißt, er ist sieben Jahre alt. Im Moment weiß ich nicht, wo Malte ist, denn er ist von zu Hause weggelaufen. Meine dreiundachtzigjährige Mutter sucht in der ganzen Stadt nach ihm. Nina liegt bestimmt zu Hause und schläft ihren Rausch aus. Gibt es etwas, was Sie tun können, um ihn diskret ausfindig zu machen und ihn dann zu meiner Mutter zu bringen oder zu irgendeinem anderen vernünftigen Menschen, bis das hier alles vorbei ist? Am liebsten zu jemand anders. Nina wird fuchsteufelswild, wenn er bei meiner Mutter ist, und die ist alt und herzkrank und schafft das eigentlich alles nicht mehr. Wie Sie sehen, sitze ich selbst hier in Follingbo fest, und ich würde mich besser um meine Patienten kümmern können, wenn ich nicht ständig darüber nachdenken müsste, wie es Malte wohl geht. Am liebsten würde ich nach Hause gehen und mich um meine Familie kümmern, aber das kann ich nun mal nicht. Entschuldigen Sie, ich benehme mich total unprofessionell, aber Ihre Frage hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Vergessen Sie, was ich gesagt habe, es ist völliger Blödsinn. Ich werde versuchen, es irgendwie anders zu lösen. Ich habe kein Recht dazu, Sie als Angehörige eines meiner Patienten damit zu belasten. Entschuldigen Sie: Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
»Ich werde tun, was ich kann. Sie kümmern sich um meinen Sohn und ich mich um Ihren. Ich werde mich mal mit einer klugen Freundin vom Sozialamt darüber austauschen, wie wir das am besten lösen. Meine
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