Das Geheimnis der toten Vögel
großen hellen Flur schlug ihr ein scharfer, etwas muffiger Geruch entgegen. Sie rief nach Nina Eriksson. Abgesehen von dem sturen Summen einer Fliege am Fenster war es völlig still. Frische Blumen in einer Vase vor dem Spiegel. Teure Möbel und tadellos saubere Fußböden. Es wirkte nicht so, als würden sie im Elend leben. Was Malte sagte, konnten natürlich auch Hirngespinste sein oder irgendetwas, was er im Fernsehen gesehen oder geträumt hatte. Sie eilte weiter, auf der Suche nach dem Badezimmer, und kam an einem Wohnzimmer vorbei, das vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen eingerichtet war. Mitten im Zimmer stand eine riesige Ledergarnitur, dazu große Grünpflanzen und exklusive Bodenvasen.
Die Tür zum Badezimmer war offen, und dort lag auf dem blauen Kachelfußboden eine blonde Frau auf dem Rücken. Maria hockte sich neben sie. Spürte einen schwachen Puls. Kaum feststellbare Atmung. Die Frau war klein und dünn, und es bereitete keine Schwierigkeiten, sie in die stabile Seitenlage zu bringen. Sie versuchte so gut es ging, die Reste von altem Essen aus dem Mund der Frau zu holen. Das T-Shirt, das einzige Kleidungsstück, das sie trug, war braun von Erbrochenem. Maria würgte und drehte sich für den nächsten Atemzug weg. Fasste in etwas Klebriges und stand auf, um sich die Hände abzuspülen. Auf jeden Fall lebte die Frau. Der Gedanke daran, was sie hätte tun müssen, wenn da keine Atmung und kein Puls gewesen wäre, ließ ihr erneut die Übelkeit im Hals hochsteigen. Schon die Vorstellung, bei jemandem, der sich eben übergeben hatte, eine Mund-zu-Mund-Beatmung vornehmen zu müssen, ekelte sie an. Maria holte ihr Handy heraus und wählte den Notruf. Besetzt, obwohl sie es mehrmals versuchte. Noch einmal. Hatte sie vielleicht die falsche Nummer gewählt, oder riefen da jetzt so viele Leute an? Maria ging wieder in die Hocke und fühlte den Puls der Frau. Ein dünnes und unregelmäßiges Ticken unter der Haut. Jetzt geht schon ran! Schließlich kam sie durch und brachte ihr Anliegen vor. Sie versprachen, einen Krankenwagen zu schicken. Aber es würde eventuell eine Weile dauern, wenn der Zustand nicht direkt lebensgefährlich war. Derzeit waren alle Krankenwagen im Einsatz.
»Ich kann nicht beurteilen, ob es lebensgefährlich ist. Sie atmet nur sehr unregelmäßig …« Das Gespräch wurde unterbrochen, noch ehe Maria den letzten Satz beendet hatte. Sie feuchtete ein Handtuch mit kaltem Wasser an und kühlte damit die Stirn der Frau, um sie zum Aufwachen zu bringen. Die Haut fühlte sich so warm und verschwitzt an. Ein Gedanke nahm Form an. Wenn es nun kein Alkoholrausch war? Vielleicht hatte sie Fieber und war richtig krank. Ansteckend? Woher konnte man wissen, ob sie nicht die Grippe hatte?
22
Sobald Nina Eriksson mit dem Krankenwagen weggebracht worden war, fuhr Maria ins Polizeigebäude, wo sie als Erstes eine heiße Dusche nahm und sich unter dem Wasserstrahl rot schrubbte. Nach und nach steigerte sie die Temperatur bis an die Grenze des Erträglichen, als ob sich das Virus in ihre Haut gesetzt hätte und abgewaschen werden könnte. Rational betrachtet wusste sie ja, dass das nicht der Fall war. Es gab keinerlei Belege dafür, dass Nina an der Vogelgrippe erkrankt sein könnte. Es war nur ein Gedanke oder eher ein Gefühl von Krankheit und Tod und Verfall, das sich mit der Erinnerung an den schrecklichen Fund von Sandra Hägg vereinigte, der Frau, die in ihrer Wohnung erdrosselt worden war. Die Fotografien am Schwarzen Brett von dem Mann, den man in Värsände gefunden hatte, krochen in sie hinein. Sein schwarzes lockiges Haar, die Narbe auf seinem Brustkorb und der breite Schnitt an seinem Hals, die offenen Augen, die sie geradewegs ansahen. Es war einfach zu viel Krankheit und Tod. Eine Angst, die sich nicht länger mit dem Verstand steuern ließ. Wie wehrte man sich dagegen? Maria widerstand dem Impuls, sich noch einmal unter das reinigende Wasser zu stellen, band ihr nasses Haar zu einem Pferdeschwanz und ging in ihr Zimmer.
Der Empfang hatte mitteilen lassen, dass die Schwester von Sandra Hägg auf dem Weg sei. Maria begrüßte Clary Hägg im Flur. Eine magere Frau mit dunklem wogendem Haar in einer Frisur, die in den Achtzigerjahren modern gewesen war. Pudelschnitt. Sie sah aus, als wäre sie um die fünfunddreißig, ungeschminkt und nicht sehr sorgfältig in ihrer Kleiderwahl. Das T-Shirt hatte Ketchupflecken, und die sackförmigen Hosen waren verknittert und
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