Das Geheimnis der Totenkiste
konnte, von Bord zu gehen. Und genau das hatte er vermutlich bereits getan.
Sie rannten zwischen den schlecht beleuchteten Kistenstapeln und anderer wartenden Fracht hindurch. Phelps’ Prophezeiung schien sich zu erfüllen. Der Nebel wurde immer dichter, bald würde es tatsächlich eine »Suppe« von echt Londoner Spezialität geben.
Das Wasser des Docks war völlig still, und die Umrisse des Holländers machten einen gespenstischen Eindruck.
Atemlos blieben sie am Fallreep stehen. Die unsichtbaren Fühler, die Elis Geist aussandte, suchten nach den Ausstrahlungen, die von jeder Kreatur der Schattenwelt ausgingen, wenn sie bei Bewußtsein war.
Aber sie nahmen nichts auf. Sein rein physischer Geruchsinn empfing Gerüche aller Art, die von der bereitstehenden Fracht stammten, doch nicht den Modergestank, den der Vampir ausströmen mußte.
Auch seinen geistigen Sinnen gelang es nicht, die Aura des Vampirs aufzunehmen.
»Mara?« Es war nicht nötig, daß er die Frage ganz stellte.
»Er war hier«, erklärte sie ihm mit tiefer Überzeugung. »Aber er hat inzwischen das Schiff verlassen. Ich glaube, er ist noch nicht sehr weit…«
Plötzlich zuckte ihr Körper zusammen, sie schwankte und wäre gefallen, wenn Hugo sie nicht schnell gestützt hätte. Ihre Augen verschleierten sich vor Schmerz, und ihr Mund schien nach Luft zu keuchen.
In seinem Geist fühlte Eli eine Spur des Schmerzes, der sie fast betäubt hatte.
Augenblicke später erfuhren seine Ohren den Grund.
Ganz in der Nähe gellte ein schriller Schrei auf, zweifellos aus Frauenmund.
»Hugo, kümmere dich um Mara. Folge mir, wenn sie sich besser fühlt.«
Er wußte mit einer Bestimmtheit, als wäre er Augenzeuge gewesen, daß der Vampir sein erstes Opfer in London getötet hatte. Die schreckliche Angst des Opfers und der Triumph des Vampirs waren von Maras sensitiven Astralantennen empfangen worden. Selbst seine eigenen weit weniger aufnahmefähigen Sinne hatten die grauenhafte Tat, wenn auch sehr abgeschwächt, miterlebt.
Er rannte zur Tür, neben dem ein Wachhäuschen stand. Der Schein einer Petroleumlampe versuchte vergeblich durch den Nebel zu dringen.
»Morag«, hörte Eli eine bekannte Stimme. –,Morag – was ist… Maggie… O mein Gott… O Gott…«
Der Wachmann stand hilflos neben Kapitän Macneil, der erst die eine, dann die andere der beiden stillen Gestalten auf dem Boden an sich drückte.
Der indische Seidenschal, die Wampumkette, sie würden nie getragen werden.
»Bei allen Heiligen!« rief der Wachmann. »Was ist geschehen, Käpt’n?«
Macneil antwortete nicht, bis Eli sich zu dem knienden Mann herabbeugte und die Hand auf seine Schulter legte.
»Sie müssen sich zusammennehmen, Kapitän Macneil«, flüsterte er. »Sie sind ein tapferer Mann und gewohnt, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Beide sind tot.«
»Meine Frau«, erklärte der Seemann tonlos. »Und mein kleines Mädchen… O Gott, wenn ich den Kerl finde… Dieses Ungeheuer…«
»Mit Ungeheuer haben Sie nicht unrecht.«
Einen Augenblick lang starrte Macneil Eli ausdruckslos an.
»Sie!« stieß er plötzlich mißtrauisch aus. »Mr. Podgram! Sie waren auf dem Schiff. Was zum Teufel tun Sie hier?«
»Ich hoffte, dies oder etwas Ähnliches verhindern zu können«, murmelte Eli mit belegter Stimme, gerade als Hugo und Mara herbeigerannt kamen.
Mara legte tröstend die Arme um die Schultern Macneils. Tränen rannen ihm über das bärtige Gesicht. Seit er ein kleiner Junge gewesen war, hatte er nicht mehr geweint, doch nun schüttelte ihn ein hilfloses, verzweifeltes Schluchzen. Mara vermochte ihn nicht mit Worten zu beruhigen. Aber der Druck ihrer Arme half, und mehr noch die Aura des Trostes, zu der sie ihren Geist zwang, obwohl sie selbst zutiefst erschüttert war.
Inzwischen beugte Eli sich über die beiden Toten. Ein rascher Blick genügte. Die Kehle der Frau wie auch der Tochter wiesen die charakteristischen Einstichmale der Vampirzähne auf. Nur wenige Tropfen Blut fanden sich auf dem Hals.
Er fragte sich, welche von beiden wohl den Schrei ausgestoßen hatte. Welcher war es gelungen, dem tödlichen Hypnoseblick des Vampirs, wenn auch nur für einen Augenblick, zu widerstehen?
Die Frau, nahm er an. Denn die Mutterliebe ist manchmal stärker als die entsetzlichen Kräfte der Schattenwelt. Leider nur einen Moment – und in dieser Zeit hatte sie geschrien, damit es vielleicht noch Hilfe für ihr Kind gäbe.
Mara führte den zitternden Kapitän zum Wachhäuschen
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